Die visuelle Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Jüdische Kleiderordnungen

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Cornelia Aust

Die visuelle Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Jüdische Kleiderordnungen

Einleitung

Nach den spätmittelalterlichen Vertreibungen großer Teile der jüdischen Bevölkerung von der Iberischen Halbinsel und aus West- und Mitteleuropa entwickelte sich ab dem 17. Jahrhundert eine Vielzahl neuer jüdischer Gemeinden. Sephardische Juden von der Iberischen Halbinsel siedelten in Italien, im Osmanischen Reich und später in westeuropäischen Handelsstädten wie Hamburg, Amsterdam oder London. Im deutschsprachigen Raum kam es zu einer zunehmenden Wiederansiedlung von aschkenasischen Juden auf dem Land, vor allem im südwestdeutschen Raum, und in den Städten. Diese Entwicklung wurde unter anderem durch den Bevölkerungsverlust im Dreißigjährigen Krieg stimuliert. Gleichzeitig wuchs die jüdische Bevölkerung in der polnisch-litauischen Adelsrepublik seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts stark an; Städte wie Krakau und Lublin wurden zu Zentren jüdischen Lebens. Die Geschichte der jüdischen Bevölkerung im Europa der Frühen Neuzeit war geprägt von intensiven wechselseitigen Beziehungen mit der lokalen nicht-jüdischen Umwelt und von engen Verbindungen zwischen den jüdischen Gemeinden in ganz Europa bis in das Osmanische Reich hinein.

Mit der Wiederansiedlung und dem Anwachsen der jüdischen Gemeinden überall in Europa stellte sich zunehmend die Frage nach dem Zusammenleben von jüdischer und christlicher Bevölkerung. Die Ansiedlung von Juden war durch obrigkeitliche Privilegien geregelt, die die rechtlichen, wirtschaftlichen und religiösen Rahmenbedingungen für die Existenz jüdischer Gemeinden festlegten. Dabei waren die jüdische Autonomie, das heißt die innerjüdische Selbstverwaltung der jüdischen Gemeinden, die Ansiedlungsbedingungen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten in der polnisch-litauischen Adelsrepublik sehr viel günstiger als im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Im wirtschaftlichen Bereich waren Juden vorwiegend als Händler und Kaufleute und in der Geldleihe tätig. In der polnisch-litauischen Adelsrepublik waren Juden außerdem als Pächter für polnische Adelige und im Handwerk aktiv. Gerade im wirtschaftlichen Bereich ergaben sich vielfältige Kontakte zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung. Jüdische und nichtjüdische Obrigkeiten waren jedoch darauf bedacht, diesen alltäglichen Umgang soweit wie möglich zu begrenzen und zu reglementieren.

Die visuelle Unterscheidbarkeit zwischen Juden und Christen war dafür zentral. Kleidung nahm – und nimmt bis heute – eine wichtige Rolle bei der Visualisierung religiöser, sozialer, kultureller oder geschlechterspezifischer Zugehörigkeit ein. Bereits seit dem 13. Jahrhundert erließen sowohl kirchliche und staatliche Obrigkeiten als auch jüdische Autoritäten wiederholt Regelungen, die auf die äußerliche Unterscheidbarkeit beider Gruppen abzielten und vor allem einen zu engen Umgang zwischen Juden und Christen im Alltag vermeiden sollten. Solche Regelungen, die Juden das Tragen bestimmter Abzeichen vorschrieben, wurden im christlichen Europa erstmals auf dem 4. Laterankonzil[1] 1215 erlassen. In den folgenden Jahrhunderten wurden sie von kirchlichen und weltlichen Instanzen überall in Europa wiederholt verhängt. Meist schrieben sie das Tragen eines gelben Abzeichens an der Kleidung oder einer in Form und/oder Farbe spezifischen Kopfbedeckung vor. Zu diesen Dekreten gehört auch der auf lateinisch verfasste Erlass des polnischen Sejms[2] von Piotrków aus dem Jahr 1538 (⌘ Quelle 1). Neben der Vorschrift einer gelben Kopfbedeckung bei Juden enthält er Regelungen zur jüdischen Wirtschaftstätigkeit. Die vielfältigen Vorschriften, sichtbare Zeichen zu tragen wurden zum Teil erst im 18. Jahrhundert offiziell abgeschafft, so zum Beispiel in Frankfurt am Main 1728 und im Habsburgerreich 1765. Allerdings wurden sie bereits zuvor zunehmend missachtet.

Gleichzeitig erließen jüdische Obrigkeiten bereits seit dem Mittelalter Vorschriften, die Kleidung, Bart und Haarwuchs der jüdischen Gemeindemitglieder betrafen und ebenfalls auf eine äußerliche Unterscheidbarkeit zur christlichen Mehrheitsgesellschaft abzielten. Die ersten derartigen Vorschriften in Europa finden sich in den Erlassen der drei rheinischen Gemeinden Speyer, Worms und Mainz (takkanot Schum[3]) aus den 13. Jahrhundert. Sie ermahnten die jüdische Bevölkerung vor allem dazu, sich an das biblische Verbot von shatnetz, der Mischung von Leinen und Wolle in einem Gewebe, zu halten und nicht die Kleidung von Nichtjuden zu tragen. Ab dem späten 16. Jahrhundert erließen jüdische Gemeinden sowie regionale als auch überregionale jüdische Verwaltungsorgane eine zunehmende Zahl an Kleiderordnungen, deren Zweck über die reine Unterscheidbarkeit zwischen Juden und Christen klar hinausging.

Diese jüdischen Kleiderordnungen bilden eine Parallele zu den zahlreichen christlichen Kleider- und Luxusordnungen, die bereits seit dem Spätmittelalter existierten. Solche Ordnungen versuchten das Tragen von luxuriösen Kleidungstücken und Schmuck einzuschränken oder zumindest eng an den sozialen Stand seines Trägers oder seiner Trägerin zu knüpfen. Dabei gingen diese Luxusordnungen weit über den Bereich der Kleidung hinaus, indem sie zum Beispiel auch detailliert die Zahl der Gäste, die zu servierenden Speisen und andere Details von Festen und Feierlichkeiten regelten. Auch in der jüdischen Gesellschaft entwickelten sich ab dem späten 16. Jahrhundert solche Kleider- und Luxusordnungen.

Ab 1607 wurden eine zunehmende Zahl an Kleidungsvorschriften von den beiden überregionalen Selbstverwaltungsorganen der Juden in der polnisch-litauischen Adelsrepublik, dem Vierländerrat (Va’ad arba arzot für Großpolen, Kleinpolen, Wolhynien und Ruthenien) und dem litauischen Länderrat (Va’ad medinat Lite) erlassen. Die auf Hebräisch verfassten Vorschriften des litauischen Länderrates von 1628 gehen auf die Vorschriften des Vierländerrates von 1607 zurück und wurden 1637/38 bestätigt und um weitere Regelungen ergänzt (⌘ Quelle 2). Anders als die spätmittelalterlichen Vorschriften ging es hier nicht nur um die Unterscheidung von der christlichen Bevölkerung, sondern um eine innere soziale und geschlechterspezifische Differenzierung. Die Kleiderordnungen versuchten vor allem das Tragen teurer und edler Kleidungsstücke einzuschränken und stellten damit eine soziale Hierarchie innerhalb der jüdischen Gemeinde her. Darüber hinaus waren, ähnlich wie bei christlichen Kleiderordnungen, Frauen besonders stark betroffen.

Klagen über die unsittliche Kleidung jüdischer Frauen finden sich darüber hinaus vor allem in der jüdischen Moralliteratur (musar), die ab dem 17. Jahrhundert immer stärkere Verbreitung fand. Eine der weitverbreitetsten und einflussreichsten jüdischen Moralschriften des 18. Jahrhunderts war das in klarem Hebräisch verfasste Kav Ha-jaschar (wörtlich: Die gerade Linie, im übertragenen Sinne: Das gerechte Maß) des in Wilna geborenen Rabbiners und Gelehrten Tzvi Hirsch Kaidanover (gest. 1712) (⌘ Quelle 3). 1705 erstmals gedruckt, erschienen dutzende Auflagen des hebräischen Originals sowie mindestens zehn Ausgaben einer von Kaidanover angefertigten jiddischen Übersetzung. Kaidanovers Leben selbst ist exemplarisch für die freiwillige oder erzwungene Mobilität jüdischen Lebens in der Frühen Neuzeit. Geboren in Wilna und aufgewachsen nahe Lublin floh er 1655 mit seinem Vater vor den Verwüstungen des Schwedisch-Polnischen Krieges (1655-1660) ins mährische Nikolsburg. Später zog die Familie nach Fürth und 1667 nach Frankfurt am Main, wo sein Vater einen Rabbinerposten erhielt. Nachdem er einige Jahre mit seiner Familie in Wilna gelebt hatte und dort geschäftlich erfolgreich gewesen war, kehrte Tzvi Hirsch Kaidanover 1696 endgültig nach Frankfurt zurück.

Auch im deutschsprachigen Raum wurden Kleider- und Luxusordnungen vor allem auf der Ebene der jüdischen Gemeinden erlassen, wie das Beispiel Fürth zeigt. Eine recht kurze und hauptsächlich Frauen betreffende Kleiderordnung findet sich in den Gemeindestatuten von 1770 (⌘ Quelle 6). Die sieben Paragraphen und die sich anschließenden Luxusgesetze sind Teil der sehr ausführlichen Statuten (über 500 Paragraphen), die das Alltags- und Gemeindeleben der Fürther Juden regelten. Die Kleiderordnung (hanhagot malbushim) ist auf Jiddisch verfasst mit Ausnahme des einleitenden weitgehend hebräischen Paragraphen. Schon 1754 hatte es der protestantische Gelehrte Andreas Würfel als zweiten Teil seines Werkes Historische Nachricht von der Judengemeinde in dem Hofmarkt Fürth das Tekunnos[4] Büchlein der Fürther Juden, das angeblich auf einem 1728 im Druck erschienen jiddischen Text mit den Luxusgesetzen der Gemeinde beruht, veröffentlicht (⌘ Quelle 5). Hier sind die einzelnen Vorschriften mit ausführlichen polemischen Kommentaren Würfels versehen, die eine klar anti-jüdische Tendenz aufweisen. Diese Polemik zeigt, dass Fragen von Kleidung und Luxus auch im jüdisch-christlichen Diskurs eine wichtige Rolle spielten.

Wie bei allen normativen Quellen haben die Kleiderordnungen jedoch nur eingeschränkte Aussagekraft was die tatsächliche Kleidung der jüdischen Bevölkerung betraf. Das äußerliche Erscheinungsbild war von einer ganzen Reihe weiterer Faktoren wie Kaufkraft, Anlass, Beruf oder geographischer Herkunft abhängig. Bildquellen, wie die in der Frühen Neuzeit beliebten Kostümbücher, können hier einen begrenzten Einblick geben (⌘ Quelle 4). Allerdings versuchten auch die Produzenten solcher Werke, wie in der Neu-eröffneten Welt-Galleria von 1703, ganz bestimmte Typen abzubilden und Kategorien, nicht Individuen zu erfassen.

Zum Ende des 18. Jahrhunderts nahm die Bedeutung von Kleiderordnungen insgesamt ab. Bei der Herstellung von Identität und Zugehörigkeit spielte Kleidung in den jüdisch-christlichen Beziehungen jedoch weiterhin eine wichtige Rolle. Der kurze Auszug aus den Statuten der Neuen Beerdigungsbruderschaft in Breslau von 1798 zeigt, wie Kleidung hier symbolisch zum Einsatz kam (⌘ Quelle 7). Die neu gegründete Bruderschaft grenzt sich von der traditionellen Chewra Kadischa (der Heiligen Bruderschaft), die seit dem 17. Jahrhundert für die Beerdigungen in den jüdischen Gemeinden Europas zuständig war, ab. Zentral war dabei vor allem die Kritik an den als unästhetisch angesehenen Beerdigungszeremonien, was auch die Kleidung der Trauernden bedarf. Die Herstellung eines »ordentlichen« Äußeren war ein wichtiges Mittel, um die Zugehörigkeit zur entstehenden bürgerlichen Gesellschaft anzuzeigen.

Die Entwicklung innerjüdischer Kleidervorschriften als auch obrigkeitlicher Regelungen für die jüdische Bevölkerung über drei Jahrhunderte hinweg zeigt, wie sich das Verhältnis zwischen politischer Herrschaft und religiöser Differenz wandelte, ohne jedoch grundsätzlich an Bedeutung zu verlieren. Stand anfangs vor allem die Distinktion zwischen Juden und Christen im Mittelpunkt, trat bald eine soziale, geographische und geschlechterspezifische Differenzierung innerhalb der jüdischen Gesellschaft hervor. Andererseits waren bestimmte Gruppen innerhalb der jüdischen Bevölkerung bestrebt, ihr äußerliches Erscheinungsbild dem der christlichen Mehrheit oder bestimmter christlicher Bevölkerungsgruppen anzugleichen.

Weiterführende Literatur

  • Robert JÜTTE, Stigma-Symbole. Kleidung als identitätsstiftendes Merkmal bei spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Randgruppen (Juden, Dirnen, Aussätzige, Bettler), in: Saeculum (Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft) 44 (1993), S. 65–89.
  • Stefan LITT, Geschichte der Juden Mitteleuropas 1500-1800, Darmstadt 2009.
  • Anne-Kathrin REICH, Kleidung als Spiegelbild sozialer Differenzierung, Hannover 2005.
  • Alfred RUBENS, A History of Jewish Costume, London 1967 [überarbeitete Ausgabe 1973].
  • Ulinka RUBLACK, Dressing Up. Cultural Identity in Renaissance Europe, New York 2010.
  • David RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History, Princeton u.a. 2010.
  • Magda TETER, »There should be no love between us and them«. Social Life and the Bounds of Jewish and Canon Law in Early Modern Poland, in: Dies. u.a.(Hg.), Social and Cultural Boundaries in Pre-Modern Poland, Oxford 2010, S. 249–270.

Anmerkungen

  1. Mittelalterliche Zusammenkunft von Vertretern der katholischen Kirche, die im Lateran, dem offiziellen Sitz der Päpste, in Rom stattfand. Zwischen 1123 und 1517 fanden fünf Laterankonzile statt.
  2. Das aus den polnischen Adeligen (szlachta) zusammengesetzte Parlament Polens. Es trat seit Ende des 15. Jahrhunderts regelmäßig zusammen. Der Sejm war unter anderem für die Königswahl und die Steuerpolitik zuständig.
  3. Die Erlasse (takkanot) der drei wichtigsten mittelalterlichen jüdischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum: Speyer (Schpira), Worms (Warmaisa) und Mainz (Magenza), die als Schum-Gemeinden bezeichnet wurden. Mit diesen Erlassen, die die jüdischen Gemeinden der drei Städte Anfang des 13. Jahrhunderts gemeinsam festlegten, erlangten sie eine führende Stellung im aschkenasischen Judentum.
  4. Jiddische Form von takkanot (Hebr.) – Vorschriften.


Zitationsempfehlung des Beitrags

Cornelia AUST, Die visuelle Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Jüdische Kleiderordnungen, in: »Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit«. Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), URL: http://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen/index.php?title=Die_visuelle_Ordnung_der_frühneuzeitlichen_Gesellschaft:_Jüdische_Kleiderordnungen