Ernest Renan, Das Leben Jesu (1863)

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Religion und Politik in Frankreich: Von der Französischen Revolution bis zur Dritten Republik

Einleitung

Ernest Renan schrieb »Vie de Jésus« während einer Reise durch den Libanon im Jahre 1860. Im Buch versucht er das Leben von Jesus wie jenes anderer historischer Persönlichkeiten zu beschreiben. Gemäß dem Positivismus unterwirft er die Evangelien einer Quellenkritik; einerseits werden die Widersprüche zwischen den Evangelien beleuchtet, anderseits werden die Berichte, die über das Leben Jesu überliefert sind, mit anderen zeitgenössischen Quellen verglichen. Schließlich hinterfragt Renan die Idee der göttlichen Intervention, indem er einige Mirakel kritisch untersucht. Renan machte also einen Unterschied zwischen dem Menschen Jesus und dem Sohn Gottes.

Quellentext

[S. 1] Das Hauptereignis der Weltgeschichte ist die Revolution, durch welche die edelsten Teile der Menschheit von den alten Religionen, die man unter dem unbestimmten Namen »Heidentum« zusammenfaßt, zu einer Religion hinübergeführt worden sind, die auf der göttlichen Einheit, der Dreieinigkeit, der Menschwerdung des Sohnes Gottes beruht. Diese Bekehrung hat fast ein Jahrtausend gebraucht, um sich zu vollziehen. Die neue Religion selbst hatte wenigstens dreihundert Jahre bedurft, um sich auszugestalten. Aber der Anfang der Revolution, um die es sich handelt, ist ein Ereignis, das unter der Regierung des Augustus und des Tiberius stattgefunden hat. Damals hat eine ausgezeichnete Persönlichkeit gelebt, die durch ihr kühnes Vorgehen und durch die Liebe, die sie einzuflößen wußte, den Inhalt des künftigen Glaubens der Menschheit schuf und seinen Ausgangspunkt feststellte. […]

[S. 57] In der Tat ist es das Reich Gottes, nämlich das Reich des Geistes, das Jesus gegründet hat; und wenn er, im Schoße seines Vaters sitzend, sein Werk in der Geschichte Frucht tragen sieht, so kann er mit Recht sagen: »Das ist es, was ich gewollte habe!« Das, was Jesus gegründet hat, was von ihm ewig bleiben wird, trotz aller Unvollkommenheiten, die von dem menschlichen Ursprung eines Werkes unzertrennlich sind, das ist die Lehre von der Freiheit des Geistes. […]

[S. 59] Die Meinungen, die Jesu Programm mit umfaßt, verstoßen gegen die Grundsätze unserer positiven Wissenschaft. Wir kennen die Geschichte der Welt; die Umwälzungen von der Art derjenigen, die Jesus erwartete, vollziehen sich nur aus geologischen oder astronomischen Gründen, bei denen man nie einen Zusammenhang mit den sittlichen Dingen nachgewiesen hat. Aber wenn man gegen die großen [S. 60] schöpferischen Geister gerecht sein will, so darf man sich nicht an den Vorurteilen stoßen, die sie geteilt haben. Kolumbus hat Amerika entdeckt, indem er von sehr falschen Voraussetzungen ausging. Newton glaubte seine törichte Erklärung der Apokalypse eben so fest wie sein Weltsystem. Wird man irgend einen mittelmäßigen Mann unserer Zeit über einen Franz von Assisi, einen heiligen Bernhard, eine Johanna d’Arc, einen Luther stellen, weil er frei von den Irrtümer [sic] ist, die diese letzteren offenkundig gehegt haben? Sollte man die Menschen nach der Richtigkeit ihrer physikalischen Anschauungen und nach der mehr oder weniger genauen Kenntnis des wahren Weltsystems beurteilen? Verstehen wir die Stellung Jesu und das, was seine Kraft ausmachte, besser! Der Deismus des achtzehnten Jahrhunderts und eine gewisse Richtung des Protestantismus haben uns daran gewöhnt, den Gründer des christlichen Glaubens nur als einen großen Sittenlehrer, als einen Wohltäter der Menschheit zu betrachten. Wir sehen im Evangelium nur die schönen Grundsätze, die es enthielt; wir werfen klug einen Schleier über den fremdartigen geistigen Zustand, aus dem es hervorgegangen ist. Es gibt ja auch Leute, die bedauern, daß die französische Revolution mehr als einmal ihren Prinzipien untreu geworden sei, und daß es nicht weise und gemäßigte Menschen gewesen seien, die sie gemacht hätten. Wir sollten doch nicht mit so spießbürgerlichen Forderungen an diese außerordentlichen, riesenhaften Ereignisse herantreten. Wir wollen lieber fortfahren, die »Moral des Evangeliums« zu bewundern, wir wollen in unserem religiösen Unterrichte die Schimäre fortlassen, die die Seele desselben war, und wir wollen nun und nimmer glauben, daß man mit einfachen Ideen von Glück oder individueller Sittlichkeit die Welt bewege. Jesu Idee war viel tiefer: es war die revolutionärste [S. 61] Idee, die jemals aus einem menschlichen Hirn hervorgegangen ist. Sie muß in ihrer Gesamtheit aufgefaßt werden, und man darf dabei nicht dasjenige ängstlich beiseite lassen, was sie zur Wiedergeburt der Menschheit wirksam gemacht hat. […]

[S. 61] Was Jesus von den Agitatoren seiner Zeit und von denen aller Jahrhunderte unterscheidet, ist sein vollkommener Idealismus. Jesus ist in gewissem Sinne ein Anarchist, denn er hat keine Vorstellung vom bürgerlichen Regimente. Dieses Regiment erscheint ihm schlechtweg als ein Mißbrauch. Er spricht von ihm in unbestimmten Ausdrücken, [S. 62] wie ein Mann aus dem Volke, der keine Idee von Politik hat. Jede Obrigkeit erscheint ihm als ein natürlicher Feind des »Menschen Gottes«, er verkündigt seinen Jüngern Zerwürfnisse mit der obrigkeitlichen Gewalt, ohne einen Augenblick daran zu denken, daß darin ein Grund zum erröten liegen könnte. Aber niemals zeigt sich bei ihm eine Spur des Wunsches, sich in die Stellung der Mächtigen und Reichen zu erheben. Er will den Reichtum und die Macht vernichten, nicht sich ihrer bemächtigen. Er sagt seinen Jüngern Verfolgungen und Todesstrafen vorher, aber niemals läßt er den Gedanken an einen bewaffneten Widerstand durchblicken. Der Gedanke, daß der Mensch durch Leidensfähigkeit und Entsagung allmächtig ist, daß er durch Reinheit des Herzens über die rohe Gewalt triumphiert, ist Jesus durchaus eigentümlich. Jesus ist kein Spiritualist, denn alles kommt bei ihm auf eine greifbare Verwirklichung hinaus; aber er ist ein vollkommener Idealist, indem die Materie für ihn nur das Zeichen der Idee und die Wirklichkeit nur der lebendige Ausdruck dessen ist, was selbst nicht sichtbar wird.

[S. 131] Als Jesus nach Galiläa zurückkehrte, hatte er seinen jüdischen Glauben vollständig aufgegeben und befand sich in völlig revolutionärer Stimmung. Von nun an kommen seine Gedanken mit vollkommener Klarheit zum Ausdruck. Die nicht allzu weit tragenden Aussprüche aus der ersten Zeit seines Prophetentums, die zum Teil von den früheren Rabbinern entlehnt waren, die erhabenen Predigten aus seiner zweiten Periode über sittliche Fragen weichen jetzt einem entschlossenen Vorgehen auf ganz bestimmte Ziele: Das Gesetz soll abgeschafft werden; er wird es abschaffen. Der Messias ist erschienen; er ist es. Das Reich Gottes wird bald offenbar werden; durch ihn wird das geschehen. Zwar weiß er sehr wohl, daß er seiner Kühnheit zum Opfer fallen wird, aber das Gottesreich kann nicht ohne einen Gewaltakt gewonnen werden; Wirren und Bürgerzwist müssen es vorbereiten. Der Menschensohn wird nach seinem Tode in Glorie zurückkehren, von Engellegionen begleitet, und seine Feinde werden vernichtet werden.

Die Kühnheit einer solchen Auffassung der Dinge darf uns nicht überraschen. Jesus betrachtete schon seit lange sein Verhältnis zu Gott als das eines Sohnes zu seinem Vater. Was bei anderen ein unerträglicher Hochmut wäre, das [S. 132] darf man bei ihm nicht als Frevel behandeln. Der Titel »Davidssohn« war der erste, den er annahm, wahrscheinlich ohne sich der leichten Einstellungen der Wahrheit bewußt zu sein, durch die man ihm die Berechtigung zur Führung dieses Titels glaubhaft zu machen suchte. Die Familie Davids war, wie es scheint, seit lange ausgestorben; weder die von Priestern stammenden Asmonäer noch Herodes noch die Römer dachten einen Augenblick daran, daß in ihrer Nähe irgendein Vertreter der Rechtsansprüche des davidischen Könighauses existieren könne. Aber seit dem Ende der Asmonäerherrschaft spukte in allen Köpfen das Traumbild eines unbekannten Abkömmlings der alten Könige, der die Nation an ihren Feinden rächen werde. Man glaubte allgemein, daß der Messias ein Davidssohn sein und wie David in Bethlehem das Licht der Welt erblicken werde. Jesus war anfangs diesem Glauben nicht sehr geneigt. Die Erinnerung an David, die die Masse des jüdischen Volkes beschäftigte, hatte nichts gemein mit dem himmlischen Reiche, an das er dachte. Er hielt sich für einen Sohn Gottes, nicht für einen Sohn Davids. Sein Reich und die Erlösung, die er im Sinne hatte, gehörten einer ganz anderen Sphäre an. Aber die öffentliche Meinung tat ihm gewissermaßen Gewalt an. Die unmittelbare Folgerung aus dem Satze »Jesus ist der Messias« war der Satz: »Jesus ist ein Davidssohn.« Deshalb duldete Jesus, daß man ihm einen Titel beilege, ohne den er nicht auf Erfolg rechnen durfte. Schließlich scheint er daran Gefallen gefunden zu haben, denn er vollbrachte bereitwilligst die Wunder, um die man ihn unter Nennung jenes Namens bat. Hier wie in mehreren anderen Fällen erschloß Jesus sich den Ideen, die seine Zeit bewegten, obgleich die seinen nicht genau damit übereinstimmten. Er sucht mit seiner Lehre vom »Gottesreich« alles in Verbindung [S. 133] zu bringen, was gerade die Herzen seiner Volksgenossen entflammte und ihre Phantasie erhitzte. Aus diesem Grund habe wir ihn die Johannestaufe annehmen sehen, an der ihm doch nicht viel liegen konnte.

[S. 134] Die Jesuslegende ist also die freie Schöpfung einer begeisterten Masse, und unter dem Eindruck der Persönlichkeit Jesu schon bei seinen Lebzeiten entstanden. Jedes große Ereignis der Geschichte ist bisher Mittelpunkt eines Sagenkreises geworden, und Jesus hätte, wenn er auch gewollt hätte, jene Gebilde der Volksphantasie nicht vernichten können.

[S. 208] In seinem [d.h. Jesu – E.G.B.] Namen hat man Jahrhunderte lang Denkern von ebenso edler Gesinnung, wie die seine war, Folter- und Todesqualen bereitet. Noch heute verhängt man in Ländern, die sich christlich nennen, Strafen wegen religiöser Mängel. Jesus darf für diese Verirrungen natürlich nicht verantwortlich gemacht werden. Er konnte nicht ahnen, daß die verirrte Phantasie mancher Völker ihn einmal als schrecklichen Moloch auslassen würde, der nach Brandopfern von Menschenfleisch begehrt. Das Christentum ist unduldsam gewesen; aber die Unduldsamkeit ist keine spezifisch christliche Erscheinung. Sie ist vielmehr eine jüdische Erscheinung, insofern das Judentum zum erstenmal den Anspruch erhoben hat, die absolute Religion zu sein, und den Grundsatz aufgestellt hat, jeder Neuerer, selbst wenn er seine Lehre durch Wunder beglaubige, sei mit Steinwürfen zu empfangen und [S. 209] ohne vorheriges Gericht zu töten. Allerdings hat auch die Heidenwelt ihre religiösen Gewaltsamkeiten besessen. Aber wenn sie ein derartiges Gesetz gehabt hätte, wie die Juden, wäre sie dann zum Christentum übergegangen? Der Pentateuch ist somit das erste Gesetzbuch des religiösen Terrorismus gewesen. Das Judentum hat zuerst das Beispiel eines starren Dogmas, dem das Schwert zur Seite steht, gezeigt. Wenn die Christen, anstatt die Juden mit blinden Hasse zu verfolgen, mit jener Denkweise gebrochen hätten, die ihrem Herrn den Tod gebracht hat – wieviel mehr hätten sie in seinem Sinne gehandelt, wieviel mehr hätten sie sich um die Menschheit verdient gemacht.

Bibliographie

Ernest RENAN, Das Leben Jesu, übersetzt von W. KALT, Halle/Saale 1913.

Das französische Original: Ernest RENAN, Vie de Jésus, Paris 1863. Online: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6102463z