Essay zu Bürgergkrieg und Liturgie

Aus Konjunkturen
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1616 erschien eine kurze englische Schrift mit dem Titel Tessaradelphus, or The Foure Brothers. Als Autor ist auf dem Titelblatt ein gewisser Thomas Harrab ausgewiesen, über den nichts weiter bekannt ist. Tessaradelphus ist eine polemische Abhandlung, in der aus katholischer Sicht mit den »sundry sects (which some call Religions)« abgerechnet wird, die aus der Reformation hervorgegangen sind. Für die »Sekte«, die in der englischen Kirche ihre Heimat gefunden hat, prägt der Autor die neue Bezeichnung »Anglianisme«. Dessen Eigenart besteht nach dem Autor nun gerade darin, gar kein wirklich eingeständiges Profil zu haben, wofür er auf die Gestaltung der gottesdienstlichen Zeremonien verweist. Gerade hier werde der von König und Parlament forcierte, durch und durch religiös armselige Synkretismus der englischen Kirche deutlich: »the religion of England, [sic!] is composed of Catholike Religion, of Lutheranisme, and Caluinisme, and yet approueth no one of them, but differeth much from euery one, singeld out by themselves«.

So abschätzig das Urteil auch ist, so stellt die von Harrab niedergelegte Beobachtung durchaus einen prägnanten Charakterzug der von der katholischen Kirche nun dauerhaft getrennten englischen Kirche des »Elizabethan Religious Settlement«, also zwischen 1558 und 1603, sowie in der darauf folgenden, von 1603 bis 1625 andauernden Ära der »Jacobean Church« heraus: Die »Church of England« war als ein herrschaftspolitisches Instrument unter Führung der englischen Krone konzipiert, in dem ebenso entschieden konfessionelle Festlegungen vermieden wie äußere Konformität zum öffentlich-kirchiichen Ritus eingefordert wurde. Eine tragende Säule dieser Konzeption stellte dabei die aus katholischen und reformatorischen Elementen amalgamierte Liturgie dar. In Gestalt des königlich oktroyierten »Book of Common Prayer« formte sie den kirchlichen Jahresrhythmus, an dem die Untertanen – wie der »Act of Uniformity« ab 1552 gesetzlich regelte – unter Androhung von Strafe regelmäßig zu partizipieren hatten.

Die Forschung zur konfessionellen Entwicklung Englands im 16. und 17. Jahrhundert hat in den letzten Jahren die beachtliche gesellschaftliche Integrationskraft der etatistischen Kirchen- und Religionspolitik von Elisabeth I. und Jakob I. herausgearbeitet. Dabei hat sie betont, dass es vor allem die gewährten Spielräume religiöser Devianz waren, durch die es gelang, eine breite, wenn auch nicht immer innige Loyalität zur englischen Krone aufrecht zu erhalten. Sowohl katholische Milieus als auch die auf weitere Reformen im Sinn des oberdeutsch-eidgenössischen Protestantismus drängenden »puritanischen« Netzwerke und Gemeinschaftsbildungen blieben weitgehend unbehelligt. Das galt zumindest, solange sie ihre Religionsausübungen inoffiziell und nicht in Opposition zum königlichen Kirchenkultus betrieben, oder solange sie ihre religiösen Überzeugungen nicht zur Grundlage politischer Alternativentwürfe machten. Treffend hat Francis Bacon, selbst Parteigänger der »Puritaner«, 1592 diese Grenzen wie folgt formuliert: »… her majesty not liking to make windows into men’s hearts and secret thoughts, except the abundance of them did overflow into overt and express acts and affirmations, tempered her law so, as it restraineth only manifest disobedience in impugning advisedly and ambitiously her majesty’s supreme power«.[1]

Allerdings waren die etatistisch gesetzten Grenzen nicht stabil. Neben den immer wieder wechselnden politischen Einschätzungen dieser Grenzen durch das Königtum waren es unter anderem die politischen und kirchlichen Eliten vor Ort sowie die in den gewährten Grenzen existierenden Gruppierungen selbst, die durch ihr Verhalten und ihren dabei unterschiedlich zutage tretenden Elan in der Vefolgung bzw. Nichtbefolgung des politisch-kirchlichen Normsystems über ihre Spielräume mitbestimmten. Diese Spielräume unterlagen daher – aufs Ganze gesehen – eher kurz- als langfristigen Verengungen und Erweiterungen. Jedoch wurde erst der Versuch der Schließung dieser Spielräume zu einem von vielen Faktoren, deren Aggregation den englischen Bürgerkrieg 1642 auslöste.

1. Polarisierung In der Forschung sind die genauen Umstände umstritten, die zu der folgenreichen herrschaftspolitischen Neubewertung der bislang gewährten religiösen Spielräume führten. Unstrittig ist allerdings, dass in diesem Prozess William Laud eine entscheidende Rolle spielte. Laud war nach dem Wechsel der Tudor- zur Stuart-Herrschaft unter Karl I. zunächst 1628 zum Bischof von London und dann 1633 zum Erzbischof von Canterbury, dem nach dem König höchsten leitenden kirchlichen Amt, aufgestiegen. Als Mitglied der »Durham House Group« gehörte er seit den 1620er Jahren einem Kreis von Theologen und Kirchenmännern an, der als eine Art bischofskirchlich-royalistischer »Thinktank« den theologischen und weltanschaulichen Gegensatz zu den »Puritanern« zu seiner kirchenpolitischen Leitlinie erhob. Im Zug seines wachsenden Einflusses erhöhte Laud dann auch den institutionellen Konformitätsdruck auf diese als Gegner der »Church of England« wahrgenommenen Kreise: Neben dem Nachdruck, den er auf die Befolgung des »Book of Common Prayer« sowie des »Act of Uniformity« legte, setzte Laud dabei auf Änderungen der Ausstattung der Kirchen und die Betonung des liturgischen Zeremoniells. Im Verbund mit einer um ihn sich sammelnden Partei von »Laudians« wurden unter anderem die Abendmahlstische in den Kirchen durch mit Chorschranken versehene Altäre ersetzt, die Altäre mit Kerzen und Kruzifixen ausgestattet, und das Knien bei der Abendmahlsfeier verpflichtend eingeführt. Ohne dass Laud und seine Parteigänger direkt in die liturgischen Formeln oder kirchenweit akzeptierten Lehrbestände eingriffen, verschoben sie so die Akzente des offiziellen kirchlichen Kults in eine Richtung, die den »Puritanern« zutiefst zuwider war. Erwartbar und wohl auch beabsichtigt trieben Lauds Maßnahmen bei der in sich ausgesprochen vielfältigen »puritanischen« Frömmigkeitsbewegung die Wahrnehmung einer tiefen kirchlichen und gesellschaftlichen Krise hervor.

Nun war es nicht das erste Mal, dass die »Puritaner« sich kirchenpolitisch unter Druck gesetzt sahen. Zur Verständigung über ihre theologische und kirchenpolitische Positionierung zur Bischofskirche und deren Zeremonien diente ihnen seit dem »Elizabethan Settlement« die Beschäftigug mit »Gewissensfällen« – »cases of conscience«. Die als eigene Literaturgattung sich etablierende Behandlung von Gewissensfällen reflektierte die konkreten religiösen und moralischen Orientierungsprobleme des frommen Gewissens, indem sie nach den verschiedenen, fallbezogenen Normen – vor allem aus der Bibel – und ihrer kontextabhängigen Anwendbarkeit fragte. In den späteren 1620er Jahren war es der in Franeker lehrende William Ames, der diese puritanische Tradition aufnahm und mit seine Abhandlung De Conscientia, ejus Jure et Casibus (erschienen 1632) der zunehmenden Polarisierung zwischen englischer Bischofskirche einerseits und dem »puritanischen« Milieu andererseits Ausdruck verlieh. Ames Stimme war dabei von besonderem Gewicht. Denn er war an der »puritanischen« Kaderschmiede des Emmanuel College, Cambridge, ausgebildet worden, und galt als Musterschüler des Startheologen William Perkins. Ames’ Abhandlung schloss auch in vielfältiger Art und Weise an den europaweit bekannten Treatise of the cases of conscience von Perkins an. Jedoch weicht er verschiedentlich in der Argumentation und Bewertung von Gewissensfällen von seinem Lehrer ab. Und An solchen Differenzen lassen sich gravierende Veränderungen in der religiösen und theologischen Haltung beobachten, die durch die veränderte historische Konstellation mit verursacht worden sind. Exemplarisch dafür steht Ames’ Behandlung der Frage nach der Notwendigkeit, ein äußerliches Bekenntnis des Glaubens abzulegen.

Perkins hatte in der Behandlung dieser Frage, die er noch während der Regierungszeit von Elisabeth I. verfasste, wie folgt argumentiert: Das äußerliche Bekenntnis des Glaubens ist von Gott geboten und darum schlechterdings notwendig. Nichtsdestoweniger ist es nicht ständig abzulegen. Es muss aber abgelegt werden, wenn entweder eine rechtmäßige Autorität – Magistrate, Fürsten oder Richter – ein solches Bekenntnis verlangt, oder wenn der Ruhm Gottes, das Heil der Menschen oder die Ehre des Nächsten durch ein nichtabgelegtes Bekenntnis verletzt werden. In allen anderen Fällen dürfen die Menschen »lawfully conceale their faith«. Soweit Perkins. Auch Ames’ Ausführungen gehen unter Rückgriff auf den selben biblischen Normbestand von der grunlegenden Notwendigkeit des äußeren Bekenntnisses des Glaubens aus. Doch es fällt ins Auge, dass er anders als Perkins der Situation der verfolgten Christen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Dabei tritt eine markante Veränderung im Argumentationsstil hervor, die Ames von Perkins unterscheidet. Denn Ames reduziert seine Argumentation einerseits auf die Möglichkeit, angesichts einer gewaltsamen Bedrohung auf ein äußerliches Bekenntnis des Glaubens zugunsten der gottgebotenen Selbsterhaltung es Lebens zu verzichten, und andererseits auf die Notwendigkeit vor allem des kirchlichen Amtsträgers, der Gefährdung der Erbauung der Kirche – sprich: die religiöse Integrität der Vergemeinschaftung der Gläubigen – auch unter Verlust des eigenen Lebens den Glauben zu widerstehen. Was bei Ames damit komplett fehlt, ist die bei Perkins angesprochene Ebene der rechtmäßigen herrschaftspolitischen Autorität.

Diese Leerstelle weist Ames sowohl als Vertreter des protestantischen »precisianist strain« aus, wie Theodor Dwight Bozeman diesen Argumentationsstil religiös-moralischer Theoriebildung genannt hat, als sie auch einen fundamentalen Plausbilitätsverlust rechtlich-politischer Institutionen als maßgeblicher lebensweltlicher Orientierungsgrößen deutlich macht. Sowenig Ames den gesamten »Puritanismus« repräsentiert, so ist seine Position doch symptomatisch für die zunehmend unversöhnliche Stimmung, die Lauds Wirken hervorrief. Die in Ames’ Position aufscheinende Verweigerung, die bestehenden Herrschaftsinstitutionen in die – kompromissbewehrte – Aushandlung möglicher gesellschaftlicher Gestaltungsräume für das »puritanische« Milieu einzubeziehen, eröffnete die schroffe Alternative des Gangs in den Untergrund einerseits, des bekennenden Martyriums andererseits. Dass Beides aus Sicht der Gegner der »Puritaner«, also Laud und seinen Parteigängern, nichts anderes als eine ordnungspolitische Gefährdung darstellen musste, versteht sich von selbst. Und just in dieser gegenseitigen Provokation und Zuspitzung, die sich auch in einer zunehmend aggressiver werdenden Publizistik während der 1630er Jahre Bahn brach, wirkte die kirchenpolitische Polarisierung krisenverschärfend auf die Entstehung des englischen Bürgerkriegs ein.

2. Umgekehrte Welt Weder die Beseitigung Lauds noch die Abschaffung des »Book of Common Prayer« durch das siegreiche Parlament führten zu einer substantiellen Entspannung unter den polarisierten protestantischen Strömungen. Dass die durch den Druck Lauds zusammenrückenden »Puritaner« in den frühen 1640er Jahren sogleich in eine Vielzahl von Gruppierungen zersplitterten, rückte eine schnelle und einvernehmliche Lösung der durch die »Westminster Assembly« angestrebten Reformen des Kirchenwesens erst recht in weite Ferne. Insofern war das Verbot des »Book of Common Prayer« durch das Parlament im Januar 1645 eher die Artikulation eines Minimalkonsenses unter den nun Ton angebenden kirchlichen und politischen Eliten. Das Narrativ, das dieses Verbot in der vom Parlament promulgierten Ordinance verliehen bekommt, räumt zwar dem »Book of Common Prayer« sein historisch relatives Recht ein, womit sichtlich der Versuch unternommen wurde, die konsensuale Basis für die angestrebten Veränderungen zu verbreitern. Doch wurde dieser Versuch durch die deutliche Abwertung des Gottesdienstbuches als Beleidigung und Bedrängnis der Frommen ebenso konterkariert, wie durch die durchgängige Zermoniekritik, die dasselbe Narrativ durchziehen.

Die Abschaffung des »Book of Common Prayer« war freilich nur eine Maßnahme unter vielen, mit der die »Westminster Assembly« und vor allem das Parlament die bislang bestehenden kirchlichen Strukturen anging – und schließlich 1646 die Bischofskirche ganz auflöste. Zu diesen Maßnahmen gehörten unter anderem die Entfernung der Bilder aus den Kirchen, der Abbau der jüngst errichteten Altäre und Chorschranken sowie eine massive Reduktion der kirchlichen Fest- und Feiertage. Die Schnelligkeit, mit der in nur vier Jahren zwischen 1645 und 1649 vorgegangen wurde, stieß weithin nicht auf Sympathie. Durchaus analog der homogenisierenden Wirkung, die der kirchenpolitische Druck auf die Formierung einer »puritanischen« Partei gehabt hatte, verbreitete sich nun in einer Vielzahl religiöser und kirchlicher Gruppierungen die Einstellung eines »common defensive attitudes against radical change«. Im Zug dieser Entwicklung verschob sich auch die Bedeutung, die das »Book of Common Prayer« für das Selbstverständnis der Reformkritischen hatte. Das betraf nicht nur die zu Tausenden ihres Amts enthobenen Pfarrer der englischen Bischofskirche nach 1646, sondern auch eine Vielzahl von Patronen, regional einflussreichen Politikern und nicht zuletzt der Gemeindeglieder der bisherigen »Church of England«. Der herrschaftspolitisch-institutionelle Charakterzug des »Book of Common Prayer« verblasste und wurde durch einen religiös-institutionellen abgelöst. In einer bislang noch nicht dagewesenen Art und Weise stieg damit die bischofkirchliche Liturgie zu einem normativen Identitätsmarker der Zugehörigkeit zur englischen Kirche auf.

Die flächendeckende Durchsetzung des parlamentarischen Verbots des »Book of Common Prayer« scheiterte daher nachhaltig. Wo lokale Eliten nicht dafür sorgten, dass das Gottesdienstbuch einfach weiter im kirchlichen Gebrauch blieb – was, wie die jüngere Forschung zeigt, oft geschah –, entwickelten besonders seine bischofskirchlichen Anhänger Strategien zu Vermeidung der Kollision mit den ungeliebten Herrschaftsinstitutionen. Ein berühmter Vertreter einer solchen, manchmal »pragmatisch« genannten Haltung war Richard Sanderson, der sich als ehemaliger Parteigänger Lauds als »episcopal divine« verstand. 1648 seines Amts als Professor in Oxford enthoben, bestritt er seinen Lebensunterhalt als Pfarrer. Schon dieser Umstand deutet an, dass es weiterhin Gemeinden gab, die bischofskirchlich orientierte Amtsträger unterstützte, wenn auch unter den institutionellen Bedingungen eines de facto Kongegrationalismus. In seiner Abhandlung The Case of Liturgy, die nachweislich ab 1652 im Manuskript zirkulierte, aber erst nach dem Tod Sandersons 1678 im Druck publiziert wurde, legte er in Form eines Briefs – wohl an einen fiktiven Adressaten – sowohl Rechenschaft über sein eigenes Verhalten ab, als er auch mehr oder weniger versteckt seine Gesinnungsgenossen in ähnlicher Situation beriet. Sandersons Schrift gibt daher einen markanten Einblick in die lokalen kirchlichen Spannungsverhältnisse während des Interregnum.

  1. Francis BACON, Observations on a Libel (1592), in: The Works of Francis Bacon, Lord Chancellor of England. A New Edition: With a Life of the Author by Basil Montagu, Vol II., Philadelphia 1844, S. 254.