Religion und Politik im Ersten Weltkrieg: Protestantische Gottesdienstordnungen

Aus Konjunkturen
Wechseln zu: Navigation, Suche

Andrea Hofmann

Religion und Politik im Ersten Weltkrieg

Einleitung

Das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914 in Sarajevo war der finale Auslöser des Ersten Weltkriegs. Am 28. Juli 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg. Das deutsche Kaiserreich war Bündnispartner der Habsburgermonarchie. Am 1. August erfolgte die deutsche Kriegserklärung an Russland, und am 3. August erklärte das Deutsche Reich Frankreich den Krieg. England trat am 4. August ebenfalls in die eskalierende Auseinandersetzung ein und stand auf der Seite von Frankreich und Russland.

Die Propaganda der deutschen Politik stilisierte den Krieg zu einem »Verteidigungskrieg«, in den die Deutschen von den umliegenden europäischen Großmächten hineingetrieben worden seien und aus dem sie wegen ihrer sittlichen und kulturellen Überlegenheit als Sieger hervorgehen würden. Im November 1918 besiegelte jedoch der Waffenstillstand im Wald von Compiègne die Niederlage und den Niedergang des deutschen wilhelminischen Kaiserreiches.

Nachdem das Heilige Römische Reich deutscher Nation 1806 aufgelöst und Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 von den deutschen Mächten geschlagen worden war, sollte Europa zunächst auf dem Wiener Kongress 1814/1815 neu geordnet werden. Die Großmächte Preußen, Österreich, Russland, Großbritannien und Frankreich bildeten die Pentarchie, die ein ausgewogenes Kräfteverhältnis in Europa garantieren sollte. Trotzdem kam es weiterhin zu Kriegen und damit zu einer erneuten Mächteverschiebung. Nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 und dem Deutschen Krieg 1866 führte der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 als letzter Einigungskrieg zur Gründung des Deutschen Reiches. Der preußische König Wilhelm I. wurde zum ersten deutschen Kaiser; Otto von Bismarck zum ersten Reichskanzler. Frankreich erlitt eine vernichtende Niederlage und musste das Gebiet Elsass-Lothringen an das Deutsche Reich abtreten. Die »Erbfeindschaft« zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich verfestigte sich und wurde für beide Nationen zu einem wesentlichen Identifikationselement. Wie überall in Europa bildete sich im Deutschen Reich ein starker Nationalismus aus, der durch die wechselhafte Geschichte und das Zusammenwachsen des Reiches im 19. Jahrhundert beflügelt wurde.

Mit der Reichsgründung erhielt das Deutsche Reich jedoch keineswegs eine stabile innere Einheit. Eine wichtige Rolle spielte seit der Reformationszeit in den deutschsprachigen Gebieten das Verhältnis der unterschiedlichen Konfessionen zueinander, das oft zu Kriegen und Unruhen geführt hatte. Nach der territorialen Neuordnung zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten die deutschen Gebiete ihre klar bestimmte konfessionelle Prägung, die seit dem 16. Jahrhundert bestanden hatte, verloren. Es waren zum Teil große Flächenstaaten entstanden, die konfessionell unterschiedlich geprägte Territorien zusammenfassten. Eine Folge waren evangelische Unionsbildungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen reformierten – d.h. auf die Schweizer Reformatoren Huldrych Zwingli und Johannes Calvin zurückgehende – und lutherischen Gemeinden angestrebt wurden. Neben den weiterhin existierenden lutherischen und reformierten Landeskirchen entstanden die unierten Landeskirchen, in denen die seit dem 16. Jahrhundert diskutierten innerevangelischen Lehrdifferenzen nicht mehr als kirchentrennend wahrgenommen wurden. Die deutschen Kaiser Wilhelm I. (reg. 1871–1888), Friedrich III. (reg. 1888) und Wilhelm II. (reg. 1888–1918) stammten aus dem Geschlecht der evangelischen brandenburgisch-preußischen Hohenzollern. Der Protestantismus innerhalb des Deutschen Reiches, vor allem preußischer Prägung, erfuhr dadurch einen Aufschwung und war eng mit dem sich ausbildenden Nationalismus verknüpft.

In der protestantischen Theologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts lassen sich grob zwei prominente Richtungen unterscheiden, die im Gegensatz zueinander standen: die positive und die liberale Theologie. Die positive Theologie erwies sich als konservativ und kritisch gegenüber der Moderne. Im Mittelpunkt ihres Interesses standen die Bibel und die darin zu erkennenden heilsgeschichtlichen Offenbarungen. Wichtige Vertreter waren z.B. Adolf Schlatter (1852–1938) und Reinhold Seeberg (1859–1953). Die liberale Theologie wurde von den Schülern des Göttinger Dogmatikprofessors[1] Albrecht Ritschl (1822–1889) getragen und beförderte am Ende des 19. Jahrhunderts die Entstehung des sog. Kulturprotestantismus: Kultur und Theologie standen für sie nicht im Gegensatz zueinander, sondern konnten miteinander verbunden werden. Dem Reich Gottes sollte durch ethisches Handeln der Weg im Hier und Jetzt bereitet werden. Kennzeichnend für den Kulturprotestantismus[2] war eine enge Bindung an den deutschen Nationalstaat. Theologen wie Adolf von Harnack (1851–1930) engagierten sich auch in der Politik. Die liberale Theologie blieb jedoch ein Elitenphänomen, das auf die kirchliche Basis kaum Einfluss hatte.

Im Gegensatz zum erstarkenden Protestantismus waren die Katholiken im 19. Jahrhundert eine Minderheit, die sich nur schwer gegen den vom Kaiser unterstützten Protestantismus durchsetzen konnte. Hinzu kam, dass Katholiken in einem Spannungsverhältnis standen, was ihre Loyalität betraf: Einerseits sollten sie sich als treue Bürger eines Nationalstaates erweisen, andererseits befand sich ihr geistliches Oberhaupt, der Papst, in Italien. In der deutschen katholischen Kirche war im 19. Jahrhundert ein starker Ultramontanismus[3] zu beobachten. Unter Bismarck kam es zu den sog. Kulturkämpfen zwischen Regierung und katholischer Kirche und zur Kulturkampfgesetzgebung 1871/72–1878. Neben diesen konfessionell konnotierten Konflikten geriet die deutsche Regierung immer wieder in Auseinandersetzungen mit der sozialdemokratischen Partei, die zunehmend an Bedeutung gewann und von der deutschen Regierung als Staatsfeind angesehen wurde. Der Beginn des Ersten Weltkriegs und die Ausrufung eines »Burgfriedens« zwischen den Konfessionen und Parteien durch Kaiser Wilhelm II. in seinen sog. Balkonreden am 31. Juli und am 1. August 1914 (⌘ Quellen 1 und ⌘ 2) wirkten vor allem auf die Minderheiten im Reich zunächst beflügelnd: Viele Katholiken, Juden und Anhänger der SPD sahen im Kriegsbeginn die Möglichkeit, sich durch die Beteiligung am Krieg als loyale Bürger des Nationalstaates zu erweisen.

Protestantische Theologen betrachteten den Krieg als eine göttliche Offenbarung: Hatten der Gottesdienstbesuch um die Jahrhundertwende abgenommen und die Pfarrer eine abnehmende Kirchlichkeit festgestellt, waren die Kirchen zu Kriegsbeginn vielerorts gefüllt, und das Interesse der Menschen an der Institution Kirche und ihren Seelsorgeangeboten schien wieder zu wachsen. Der Krieg wurde von den Theologen als »Heiliger Krieg« stilisiert, der die bestehenden parteipolitischen, gesellschaftlichen und konfessionellen Streitigkeiten in Deutschland beenden und das Kommen des Gottesreiches befördern sollte.

In der protestantischen Frömmigkeitsliteratur vermischten sich in dieser Zeit Ideen und Motive aus der weltlichen und der kirchlichen Propaganda. Dies ist z.B. an der Gestaltung von Kriegsgottesdiensten nachzuvollziehen. Die evangelischen Geistlichen Karl Arper (1864–1936; Archidiakon[4] in Weimar) und Alfred Zillessen (1871–1937, Pfarrer in Stollberg im Rheinland) veröffentlichten 1914 eine dreibändige Agende für Kriegszeiten, die als Ergänzung der landeskirchlichen Agenden genutzt werden sollte. Die Agende für Kriegszeiten bot für alle evangelischen Landeskirchen gemeinsam neben Gottesdienstabläufen Vorschläge für Schriftworte, Gebete und Lieder, die konkret auf den Krieg Bezug nahmen. In den folgenden Quellenteilen sind neben einem Gottesdienstablauf (⌘ Quelle 3) zwei für die Kriegszeit typische Gebete (⌘ Quellen 4 und ⌘ 5) und ein Liedtext des Dichters Richard Zoozmann (1863–1934), das auf die bekannte Melodie »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren« von Joachim Neander (1650–1680) gesungen werden sollte (⌘ Quelle 6), aufgenommen. Ergänzend wird das Lied »Gottlob, nun ist erschollen« von Rudolf Alexander Schröder (1878–1962) aufgeführt (⌘ Quelle 7), welches den Text des gleichnamigen Liedes von Paul Gerhardt (1607–1676) für den Kontext des Ersten Weltkriegs bearbeitete.

Die Agende für Kriegszeiten wurde nie offiziell als Agende in einer deutschen protestantischen Landeskirche eingeführt. Sie wurde jedoch mit Genehmigung der Kirchenleitungen zur Gottesdienstgestaltung genutzt. Im protestantischen Umfeld kann die Agende als weiterer Versuch zur Überwindung innerprotestantischer Differenzen und damit zur Stärkung des nationalen Burgfriedens betrachtet werden, da sie für lutherische, reformierte und unierte Landeskirchen brauchbar war. Zugleich stehen ihre Texte beispielhaft für die theologische Deutung und sakrale Überhöhung des Ersten Weltkriegs, die im Gottesdienst an die Gemeinde vermittelt wurden.

Ausgewählte weiterführende Literatur

  • Gerhard BESIER, Kirche, Politik und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 1998.
  • Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871, München 1993.
  • Martin FRIEDRICH, Kirche im gesellschaftlichen Umbruch. Das 19. Jahrhundert, Göttingen 2006.
  • Martin GRESCHAT, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Stuttgart 2014.
  • Gerd KRUMEICH / Hartmut LEHMANN (Hg.), »Gott mit uns.« Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000.
  • Jörn LEONHARD, Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs, München 2014.

Anmerkungen

  1. Dogmatik: Lehre von den Inhalten des christlichen Glaubens.
  2. Strömung des Protestantismus im wilhelminischen Kaiserreich, die versuchte, Theologie, Kirche und Kultur zu verbinden.
  3. Die religiös-politische Idee der Vormachtstellung des Papstes und der Kirche generell. Der Begriff verweist direkt auf Rom: ultra montanes (»über den Bergen«, d.h. über den Alpen; die Position Roms vom Norden Europas aus gesehen).
  4. Zweiter ordinierter Pfarrer einer evangelisch-lutherischen Gemeinde.


Zitationsempfehlung des Beitrags

Andrea Hofmann, Religion und Politik im Ersten Weltkrieg: Protestantische Gottesdienstordnungen, in: »Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit«. Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), URL: http://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen/index.php?title=Religion_und_Politik_im_Ersten_Weltkrieg:_Protestantische_Gottesdienstordnungen