Zur Genese des modernen Toleranzgedankens: Das sozinianische Plädoyer für Religionsfreiheit

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Kęstutis Daugirdas

Zur Genese des modernen Toleranzgedankens: Das sozinianische Plädoyer für Religionsfreiheit

Einleitung

Die geographische Lage des Großfürstentums Litauen und des Königreichs Polen konfrontierte die beiden Gemeinwesen, die bis zu dem Lubliner Reichstag von 1569 in einer Personalunion und anschließend in einer föderalen Realunion vereint waren, noch vor dem Ausbruch der Reformation mit der Problematik der religiösen resp. konfessionellen Pluralität. Insbesondere das Großfürstentum Litauen, das sich im Nordosten bis weit hinter Polock erstreckte und bis zur Lubliner Union im Südosten das Kiever Land mit umfasste, wies eine in religiöser Hinsicht heterogene Bevölkerung auf: Nebst der römisch-katholischen Mehrheit und den kleinen Minderheiten, wie Juden, Karäern und Tataren, gehörte ein bedeutender Teil seiner Einwohner der griechisch-orthodoxen Kirche an. Eine entsprechende Abbildung dieser konfessionellen Situation bei der politischen Entscheidungsfindung gab es gleichwohl vorerst nicht. Seit der polnisch-litauischen Union von Horodło (1413) stand der Zugang zur Macht lediglich dem römischen-katholischen Adel offen, wobei die Griechisch-Orthodoxen von den Ämtern ausgeschlossen wurden.

Die immer offener zu Tage tretende Ausbreitung der reformatorischen Ideen nach dem Tod des polnischen Königs Sigismunds des Alten (1467–1548, reg. 1507–1548) machte die religiös-politische Situation in Polen-Litauen noch komplexer. Zu den bereits bestehenden römisch-katholischen und griechisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaften traten in den 1550er Jahren die vornehmlich vom Adel geförderten protestantischen Gruppen hinzu, die sich im Laufe der Zeit in eine lutherische und eine reformierte Kirche sowie die Böhmischen Brüder aufgliederten. Die reformierte Kirche, die vor allem vom Adel in Kleinpolen und im Großfürstentum Litauen bevorzugt wurde, teilte sich wiederum zu Beginn der 1560er Jahre in zwei miteinander konkurrierende Einheiten auf. Die Mehrheit der intellektuell führenden Geistlichen schloss sich zur antitrinitarisch-dogmenkritischen Kleinen Reformierten Kirche (lat. ecclesia reformata minor) zusammen. Der Großteil des Adels verblieb hingegen in der sog. Großen Reformierten Kirche (lat. ecclesia reformata maior), die an den im Christentum seit den altkirchlichen Konzilen zu Nizäa (325), Konstantinopel (381) und Chalcedon (451) allgemein rezipierten Dogmen, etwa der Trinitätslehre und der Gott-Menschheit Christi, weiterhin festhielt.

Die dynamischen Prozesse der konfessionellen Ausdifferenzierung des lateinischen Christentums ließen die Vormachtstellung des in Polen-Litauen bis dahin vorherrschenden römischen Katholizismus kurz nach der Mitte des 16. Jahrhunderts ins Wanken geraten. Die reformatorische Wende solch mächtiger Adelsfamilien wie Radziwiłł im Großfürstentum Litauen, Myszkowski in Kleinpolen und Ostroróg in Großpolen warf die Frage nach der politischen Partizipation der Andersgläubigen auf eine ganz neue Art und Weise auf. Mit den Vertretern dieser Familien, denen sich viele andere anschlossen, bekleideten zu jener Zeit die offen antipäpstlich gesinnten Personen die polnisch-litauischen Spitzenämter. Dass sie sich um die dauerhafte Absicherung ihrer politischen Rechte bemühen würden, war abzusehen, und dazu kam es denn auch bald. Als erstes rang sich das Großfürstentum Litauen zur rechtlichen Ausklammerung der konfessionellen Differenzen bei der Vergabe der politischen Ämter durch. Dies erfolgte mit den Privilegen von Sigismund II. August (1520–1572, reg. 1548–1572) in den Jahren 1563 und 1568, welche die konfessionelle Ausrichtung der Kandidaten als irrelevant für die Erlangung der großfürstlichen Ämter erklärten. Für das gesamte polnisch-litauische Gemeinwesen sicherte die Warschauer Konföderation im Jahr 1573 die religiösen Freiheiten des Adels ab (vgl. ⌘ Quelle 1). Bei diesen richtungsweisenden religiös-politischen Vorgängen blieb der rechtliche Status der Antitrinitarier nicht eindeutig geklärt. Die Bestimmungen der Warschauer Konföderation galten zwar für alle Christen uneingeschränkt, doch wurde im Fall der Antitrinitarier das gegen sie gerichtete Edikt, das Sigismund II. August 1564 erlassen hatte, immer wieder in Erinnerung gerufen. Da die Mehrheit der Antitrinitarier seit den 1570er Jahren die unitarische Meinung vertrat, dass Jesus Christus lediglich ein historisch einzigartiger Mensch und kein gottgleicher Sohn Gottes gewesen sei, wurden sie insbesondere von den Vertretern des römischen Katholizismus mit dem Argument angegriffen, sie seien gar keine Christen und daher von den Schutzbestimmungen der Warschauer Konföderation auszunehmen. Von den Theologen der restlichen Konfessionen ähnlich eingeschätzt, konnte sich die antitrinitarische ecclesia reformata minor nur behaupten, weil sie unter dem Kleinadel über Anhänger verfügte und die politisch einflussreichen Angehörigen der ecclesia reformata maior eine wie auch immer geartete Einschränkung der Geltung der Warschauer Konföderation zunächst nicht zuließen. Diese Konstellation ermöglichte den Antitrinitariern, die unter dem Einfluss des nach Polen übergesiedelten Italieners Fausto Sozzini (1539–1604) ein neuartiges, die historische Entwicklung der religiös-sittlichen Normen annehmendes Religionsmodell entwickelten, den Aufbau der institutionellen Strukturen. In über ganz Polen-Litauen verstreuten Gemeinden kirchlich organisiert, verfügten sie, die ca. ein Prozent der Bevölkerung ausmachten, in der Zeitspanne von 1602 bis 1638 über ein akademisches Gymnasium und eine Druckerei in Raków.

Gegen Ende der Regierungszeit von Sigismund III. Wasa (1566–1632, reg. 1587–1632), der über Jahre hinweg eine pro-katholische Politik bei der Besetzung der Ämter verfolgt hatte, verschlimmerte sich die Lage für die Antitrinitarier. Mit dem Zurückdrängen des Einflusses des protestantischen Adels kam zum Vorschein, dass sie aufgrund der Spezifika ihrer Ansichten das am leichtesten verwundbare Glied in der Reihe der nicht-katholischen Christen Polen-Litauens bildeten. Die nie verstummten Anschuldigungen, die Antitrinitarier seien keine Christen, wurden jetzt gezielt eingesetzt, um ihnen das Existenzrecht in Polen-Litauen streitig zu machen. Es war diese Situation, die Johannes Crell (1590–1633), den deutschstämmigen Rakówer Prediger und Gymnasialprofessor, dazu veranlasste, die Toleranzidee konsequent zu durchdenken und in dem Traktat Vindiciae pro religionis libertate (dt.: Ein Plädoyer für Religionsfreiheit, vor 1633) niederzulegen. Wie seine Gesinnungsgenossen ging Crell hierbei von der unverrückbaren Geltung der Warschauer Konföderation einerseits und von der geschichtlichen Wandelbarkeit religiös-sittlicher Normen sowie der sie vertretenden Mehrheiten andererseits aus. Damit begründete er in seinem Traktat, der einen wichtigen Strang in der Genese des modernen Toleranzgedankens bildete und im Folgenden in Auszügen geboten wird (⌘ Quelle 2), eine prinzipielle Duldung aller religiösen Gruppierungen in einem Gemeinwesen, sofern sie sich an die geltenden Gesetze hielten.

Weiterführende Literatur

  • Manfred ALEXANDER, Kleine Geschichte Polens, Bonn 2005.
  • Alfons BRÜNING, Unio non est unitas. Polen-Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter (1569–1648), Wiesbaden 2008.
  • Kęstutis DAUGIRDAS, Die Anfänge des Sozinianismus. Genese und Eindringen des historisch-ethischen Religionsmodells in den universitären Diskurs der Evangelischen in Europa, Mainz 2016.
  • Zigmantas KIAUPA, Jūratė Kiaupienė, Albinas Kuncevičius, The History of Lithuania before 1795, Vilnius 2000.
  • Wojciech KRIEGSEISEN, Die Protestanten in Polen-Litauen (1696–1763). Rechtliche Lage, Organisation und Beziehungen zwischen den evangelischen Glaubensgemeinschaften, Wiesbaden 2011.
  • Gotthold RHODE, Kleine Geschichte Polens, Darmstadt 1965.
  • Karl VÖLKER, Kirchengeschichte Polens, Berlin u.a. 1930.
  • Earl Morse WILBUR, A history of Unitarianism: Socinianism and its antecedents, Boston 1946.
  • George Huntston WILLIAMS, The Radical Reformation, Kirksville, MO 32000.


Zitationsempfehlung des Beitrags

Kęstutis DAUGIRDAS, Zur Genese des modernen Toleranzgedankens: Das sozinianische Plädoyer für Religionsfreiheit, in: »Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit«. Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), URL: http://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen/index.php?title=Zur_Genese_des_modernen_Toleranzgedankens:_Das_sozinianische_Plädoyer_für_Religionsfreiheit