Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit: Unterschied zwischen den Versionen

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Den theoretischen Ausgangspunkt der Anthologie stellt die Beobachtung dar, dass in den gegenwärtigen Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Politik in Europa eine nachhaltige Veränderung der Selbstwahrnehmung gegenwärtiger Gesellschaften zu Tage tritt. Denn religiöse Überzeugungen und Symbolwelten besitzen offenbar auch in Verfassungs- und  Rechtsordnungen, die auf die religiöse Neutralität des Staates bedacht sind, ein dauerhaftes und fallweise konfliktträchtiges gesellschaftspolitisches Mobilisierungspotential. <ref>Vgl. Ulrich WILLEMS / Michael MINKENBERG, Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts, in:  dies. (Hg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003 (PVS Sonderheft 33/2002), S. 13–41. Vgl. zu den verschiedenen Typen des modernen Religionsverfassungsrechts Winfried BRUGGER, Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation. Staat-Kirche-Modelle und ihre Verhältnis zur Religionsfreiheit, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 253–283.</ref> Die gegenwartsdiagnostischen Deutungen dieses Phänomens sind im Detail heftig umstritten. Grundsätzlich zeichnen sich die wissenschaftlichen Deutungsdebatten jedoch durch ein lebhaftes Interesse aus, langfristige Entwicklungen in die Analyse des Phänomens mit einzubeziehen. Dies geschieht meist in Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer progressiven »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, die zu einer funktionalen Differenzierung von Politik und Religion und einem gesellschaftlichen Bedeutungsschwund religiöser Orientierungen geführt habe.<ref>Matthias POHLIG / Ute LOTZ-HEUMANN / Vera ISAIAZ / Ruth SCHILLING / Heike BOCK / Stefan EHRENPREIS, Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 41), Berlin 2008; Detlef POLLACK /  Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.</ref> In den historischen Auseinandersetzungen richtet sich die Aufmerksamkeit  neben Kontinuitäten auf Transformationen in den gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik, die »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.<ref>POLLACK, Detlef / SPOHN, Ulrike / GUTMANN, Thomas / BASU, Helene / WILLEMS, Ulrich, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.</ref>
 
Den theoretischen Ausgangspunkt der Anthologie stellt die Beobachtung dar, dass in den gegenwärtigen Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Politik in Europa eine nachhaltige Veränderung der Selbstwahrnehmung gegenwärtiger Gesellschaften zu Tage tritt. Denn religiöse Überzeugungen und Symbolwelten besitzen offenbar auch in Verfassungs- und  Rechtsordnungen, die auf die religiöse Neutralität des Staates bedacht sind, ein dauerhaftes und fallweise konfliktträchtiges gesellschaftspolitisches Mobilisierungspotential. <ref>Vgl. Ulrich WILLEMS / Michael MINKENBERG, Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts, in:  dies. (Hg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003 (PVS Sonderheft 33/2002), S. 13–41. Vgl. zu den verschiedenen Typen des modernen Religionsverfassungsrechts Winfried BRUGGER, Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation. Staat-Kirche-Modelle und ihre Verhältnis zur Religionsfreiheit, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 253–283.</ref> Die gegenwartsdiagnostischen Deutungen dieses Phänomens sind im Detail heftig umstritten. Grundsätzlich zeichnen sich die wissenschaftlichen Deutungsdebatten jedoch durch ein lebhaftes Interesse aus, langfristige Entwicklungen in die Analyse des Phänomens mit einzubeziehen. Dies geschieht meist in Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer progressiven »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, die zu einer funktionalen Differenzierung von Politik und Religion und einem gesellschaftlichen Bedeutungsschwund religiöser Orientierungen geführt habe.<ref>Matthias POHLIG / Ute LOTZ-HEUMANN / Vera ISAIAZ / Ruth SCHILLING / Heike BOCK / Stefan EHRENPREIS, Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 41), Berlin 2008; Detlef POLLACK /  Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.</ref> In den historischen Auseinandersetzungen richtet sich die Aufmerksamkeit  neben Kontinuitäten auf Transformationen in den gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik, die »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.<ref>POLLACK, Detlef / SPOHN, Ulrike / GUTMANN, Thomas / BASU, Helene / WILLEMS, Ulrich, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.</ref>
  
Solche Dynamiken der Gegenläufigkeit, der Pfadabhängigkeiten und von Rückschlägen sind mit der im 15./16. Jahrhundert anhebenden Ausbildung moderner Staatlichkeit verknüpft, durch die das Verhältnis von Religion und Politik bis in unsere Gegenwart hinein bestimmt wird. Die vielschichtigen, regional geprägten Staatsbildungsprozesse wurden zudem unter ihren jeweiligen religionskulturellen Bedingungen im lateinischen und orthodoxen Christentum, im Judentum und im islamischen Osmanischen Reich zeitlich wie auch institutionell unterschiedlich ausgeformt.<ref>Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Dazu vgl. Ronald G. ASCH / Dagmar FREIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005. Für den jüdischen und osmanischen Kontext siehe David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010, S. 57–98 und Baki TECZAN, The Second Empire: The Transformation of the Ottoman Polity in the Early Modern Era, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 29 (2009), S. 556–572.</ref> Die Verbindung von Staatsbildungsprozessen und Religionskulturen hat zeitspezifische gesellschaftliche Ordnungsmuster hervorgebracht, in denen religiöse Ordnungsvorstellungen und politische Ordnungsentwürfe teils ineinander griffen, teils dezidiert auseinandergehalten wurden. Diese Ordnungsmuster wurden neuen Herausforderungen immer wieder angepasst und daher in andere Konstellationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik überführt. Eine zeitweise »Autonomisierung des Politischen« in solchen Prozessen der neuzeitlichen Ver- und Entflechtung von Religion und Politik ist jedoch nicht mit einer strukturellen Ablösung beider Sphären zu verwechseln. Vielmehr scheint es uns sinnvoll, in Anschluss an einen Vorschlag von Reinhard Blänkner hierfür den Begriff der »Konjunkturen« aufzunehmen.<ref>Vgl. BLÄNKNER, Reinhard, Historizität, Institutionalität, Symbolizität: grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (ZhF Beiheft 35), S. 71–96, S. 84f.</ref> Denn dieser Begriff schließt langfristig grundlegende Transformationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik ebenso wenig aus, wie er gegen einlinige Erzählungen einer progressiven, auf funktionale Differenzierung hinauslaufenden Säkularisierung an der persistenten Rolle der Religion für politische Ordnungsentwürfe in der europäischen Neuzeit festhält. Darüber hinaus ist der Begriff der »Konjunkturen«, anders als säkularisierungstheoretische Modelle von »Phasen« oder »Wellen«, besonders dazu geeignet, den vielschichtigen und polyzentrischen Charakter gesellschaftlicher Ordnungsmuster zu unterstreichen. Gesellschaftliche Ordnungsmuster sind ja keine essentialistisch fixierten Größen, sondern werden durch Individuen, Kollektive und Institutionen vertreten, auf verschiedene Art und Weise kommuniziert und eben von Zeit zu Zeit, durch vielfältige andere Faktoren beeinflusst, neu ausgehandelt.
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Solche Dynamiken der Gegenläufigkeit, der Pfadabhängigkeiten und von Rückschlägen sind mit der im 15./16. Jahrhundert anhebenden Ausbildung moderner Staatlichkeit verknüpft, durch die das Verhältnis von Religion und Politik bis in unsere Gegenwart hinein bestimmt wird. Die vielschichtigen, regional geprägten Staatsbildungsprozesse wurden zudem unter ihren jeweiligen religionskulturellen Bedingungen im lateinischen und orthodoxen Christentum, im Judentum und im islamischen Osmanischen Reich zeitlich wie auch institutionell unterschiedlich ausgeformt.<ref>Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Dazu vgl. Ronald G. ASCH / Dagmar FREIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005. Für den jüdischen und osmanischen Kontext siehe David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010, S. 57–98 und Baki TECZAN, The Second Empire: The Transformation of the Ottoman Polity in the Early Modern Era, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 29 (2009), S. 556–572.</ref> Die Verbindung von Staatsbildungsprozessen und Religionskulturen hat zeitspezifische gesellschaftliche Ordnungsmuster hervorgebracht, in denen religiöse Ordnungsvorstellungen und politische Ordnungsentwürfe teils ineinander griffen, teils dezidiert auseinandergehalten wurden. Diese Ordnungsmuster wurden neuen Herausforderungen immer wieder angepasst und daher in andere Konstellationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik überführt. Eine zeitweise »Autonomisierung des Politischen« in solchen Prozessen der neuzeitlichen Ver- und Entflechtung von Religion und Politik ist jedoch nicht mit einer strukturellen Ablösung beider Sphären zu verwechseln. Vielmehr scheint es uns sinnvoll, in Anschluss an einen Vorschlag von Reinhard Blänkner hierfür den Begriff der »Konjunkturen« aufzunehmen.<ref>Vgl. BLÄNKNER, Reinhard, Historizität, Institutionalität, Symbolizität: grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (ZhF Beiheft 35), S. 71–96, S. 84f.</ref> Denn dieser Begriff kann langfristig grundlegende Transformationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik ebenso erfassen, wie er gegen einlinige Erzählungen einer progressiven, auf funktionale Differenzierung hinauslaufenden Säkularisierung an der persistenten Rolle der Religion für politische Ordnungsentwürfe in der europäischen Neuzeit festhält. Darüber hinaus ist der Begriff der »Konjunkturen«, anders als säkularisierungstheoretische Modelle von »Phasen« oder »Wellen«, besonders dazu geeignet, den vielschichtigen und polyzentrischen Charakter gesellschaftlicher Ordnungsmuster zu unterstreichen. Gesellschaftliche Ordnungsmuster sind ja keine essentialistisch fixierten Größen, sondern werden durch Individuen, Kollektive und Institutionen vertreten, auf verschiedene Art und Weise kommuniziert und eben von Zeit zu Zeit, durch vielfältige andere Faktoren beeinflusst, neu ausgehandelt.
  
 
==Aufbau der Anthologie==   
 
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Die ''Themen'' der Anthologie reichen von einem Beitrag zum Spannungsfeld zwischen orthodoxer Konformität und politischem Pragmatismus in der Walachai des 16. Jahrhunderts bis hin zu protestantischen Gottesdienstordnungen im Ersten Weltkrieg. Geographisch widmen sich die Beiträge Westeuropa, dem Heiligen Römischen Reich, Ostmitteleuropa und dem Osmanischen Reich. Die einzelnen Beiträge der Anthologie umfassen jeweils drei Teile: Nach einer Einführung in das Thema sowie seinen historischen Kontext werden ausgewählte Quellenstücke präsentiert. Die Quellenauswahl ist dabei mit Anmerkungen und Kommentaren versehen, die eine selbstständige Erarbeitung des Verständnisses der Texte bzw. Bilder ermöglichen sollen. Als Drittes ist den Beiträgen ein auswertender Essay beigegeben, der das Thema anhand der bereitgestellten Quellen noch einmal analysiert und in den wissenschaftlichen Zusammenhang einordnet. Der Essay stellt eine Vertiefung des jeweiligen Themas dar und bietet mit seinen Literaturangaben Hinweise zur Weiterarbeit. Neben dem thematischen Zugang bietet die Anthologie die Möglichkeit, über die [[Kategorie:Quellengattungen|Quellengattungen]] sich die unterschiedlichen Kommunikationsformen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik zu erschließen. Dieser stärker ''methodisch'' orientierte Zugang wird durch erläuternde Bemerkungen zu den einzelnen Quellengattungen unterstützt.
 
Die ''Themen'' der Anthologie reichen von einem Beitrag zum Spannungsfeld zwischen orthodoxer Konformität und politischem Pragmatismus in der Walachai des 16. Jahrhunderts bis hin zu protestantischen Gottesdienstordnungen im Ersten Weltkrieg. Geographisch widmen sich die Beiträge Westeuropa, dem Heiligen Römischen Reich, Ostmitteleuropa und dem Osmanischen Reich. Die einzelnen Beiträge der Anthologie umfassen jeweils drei Teile: Nach einer Einführung in das Thema sowie seinen historischen Kontext werden ausgewählte Quellenstücke präsentiert. Die Quellenauswahl ist dabei mit Anmerkungen und Kommentaren versehen, die eine selbstständige Erarbeitung des Verständnisses der Texte bzw. Bilder ermöglichen sollen. Als Drittes ist den Beiträgen ein auswertender Essay beigegeben, der das Thema anhand der bereitgestellten Quellen noch einmal analysiert und in den wissenschaftlichen Zusammenhang einordnet. Der Essay stellt eine Vertiefung des jeweiligen Themas dar und bietet mit seinen Literaturangaben Hinweise zur Weiterarbeit. Neben dem thematischen Zugang bietet die Anthologie die Möglichkeit, über die [[Kategorie:Quellengattungen|Quellengattungen]] sich die unterschiedlichen Kommunikationsformen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik zu erschließen. Dieser stärker ''methodisch'' orientierte Zugang wird durch erläuternde Bemerkungen zu den einzelnen Quellengattungen unterstützt.
  
Die Anthologie ist vor allem für die Lehre in Proseminaren und Übungen, vornehmlich in der Geschichtswissenschaft und der Theologie (Kirchengeschichte) konzipiert worden. Dabei kann aus den Beiträgen eine einsemestrige Lehrveranstaltung zum Thema Religion und Politik in historischer Perspektive abgehalten werden. Andere Formen der Benutzung, etwa einzelner Beiträge oder Quellen, steht natürlich nichts im Weg.
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Die Anthologie ist vor allem für die Lehre in Proseminaren und Übungen, vornehmlich in der Geschichtswissenschaft und der Theologie (Kirchengeschichte) konzipiert worden. Dabei kann aus den Beiträgen eine einsemestrige Lehrveranstaltung zum Thema Religion und Politik in historischer Perspektive abgehalten werden. Anderen Formen der Benutzung, etwa einzelner Beiträge oder Quellen, steht natürlich nichts im Weg.
  
 
Der Forschungsbereich 1 des IEG bedankt sich bei Frau Mariam Hammami, M.A., für ihre vorbildliche und glänzende Unterstützung bei der Bearbeitung der Online-Anthologie.  
 
Der Forschungsbereich 1 des IEG bedankt sich bei Frau Mariam Hammami, M.A., für ihre vorbildliche und glänzende Unterstützung bei der Bearbeitung der Online-Anthologie.  

Version vom 14. Februar 2017, 15:00 Uhr

Themen der Quellenanthologie

Einleitung

Christopher Voigt-Goy

Die vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) herausgegebene Online-Quellenanthologie verfolgt anhand ausgewählter Beispiele den Wandel des Verhältnisses von Religion und Politik in der europäischen Neuzeit. Damit wird ein Thema aufgegriffen, das seit geraumer Zeit wieder intensiv diskutiert wird, und das die gemeinsame Arbeit des Forschungsbereichs »Etablierung von Differenz: religiös-politische Konflikte und Konsensstiftungen« am IEG in den letzten Jahren bestimmte. Die Beiträge zu der Online-Quellenanthologie sind aus den Forschungsprojekten des Forschungsbereichs heraus entstanden. Als ein Ziel hat sich diese Anthologie gesetzt, zu einer historisch differenzierten Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung von religiösen Vorstellungen, Symbolen und Praktiken und deren Gewicht für politisches Handeln beizutragen. Dabei war es für uns wichtig, neben einem zeitlich weit gefächerten Spektrum auch eine gewisse geographische und religiöse Breite an Beispielen in die Anthologie aufzunehmen. Die Anthologie richtet sich an Studierende, an Lehrende und Forschende, aber auch an andere historisch und thematisch Interessierte.

Den theoretischen Ausgangspunkt der Anthologie stellt die Beobachtung dar, dass in den gegenwärtigen Diskussionen über das Verhältnis von Religion und Politik in Europa eine nachhaltige Veränderung der Selbstwahrnehmung gegenwärtiger Gesellschaften zu Tage tritt. Denn religiöse Überzeugungen und Symbolwelten besitzen offenbar auch in Verfassungs- und Rechtsordnungen, die auf die religiöse Neutralität des Staates bedacht sind, ein dauerhaftes und fallweise konfliktträchtiges gesellschaftspolitisches Mobilisierungspotential. [1] Die gegenwartsdiagnostischen Deutungen dieses Phänomens sind im Detail heftig umstritten. Grundsätzlich zeichnen sich die wissenschaftlichen Deutungsdebatten jedoch durch ein lebhaftes Interesse aus, langfristige Entwicklungen in die Analyse des Phänomens mit einzubeziehen. Dies geschieht meist in Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer progressiven »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, die zu einer funktionalen Differenzierung von Politik und Religion und einem gesellschaftlichen Bedeutungsschwund religiöser Orientierungen geführt habe.[2] In den historischen Auseinandersetzungen richtet sich die Aufmerksamkeit neben Kontinuitäten auf Transformationen in den gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik, die »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.[3]

Solche Dynamiken der Gegenläufigkeit, der Pfadabhängigkeiten und von Rückschlägen sind mit der im 15./16. Jahrhundert anhebenden Ausbildung moderner Staatlichkeit verknüpft, durch die das Verhältnis von Religion und Politik bis in unsere Gegenwart hinein bestimmt wird. Die vielschichtigen, regional geprägten Staatsbildungsprozesse wurden zudem unter ihren jeweiligen religionskulturellen Bedingungen im lateinischen und orthodoxen Christentum, im Judentum und im islamischen Osmanischen Reich zeitlich wie auch institutionell unterschiedlich ausgeformt.[4] Die Verbindung von Staatsbildungsprozessen und Religionskulturen hat zeitspezifische gesellschaftliche Ordnungsmuster hervorgebracht, in denen religiöse Ordnungsvorstellungen und politische Ordnungsentwürfe teils ineinander griffen, teils dezidiert auseinandergehalten wurden. Diese Ordnungsmuster wurden neuen Herausforderungen immer wieder angepasst und daher in andere Konstellationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik überführt. Eine zeitweise »Autonomisierung des Politischen« in solchen Prozessen der neuzeitlichen Ver- und Entflechtung von Religion und Politik ist jedoch nicht mit einer strukturellen Ablösung beider Sphären zu verwechseln. Vielmehr scheint es uns sinnvoll, in Anschluss an einen Vorschlag von Reinhard Blänkner hierfür den Begriff der »Konjunkturen« aufzunehmen.[5] Denn dieser Begriff kann langfristig grundlegende Transformationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik ebenso erfassen, wie er – gegen einlinige Erzählungen einer progressiven, auf funktionale Differenzierung hinauslaufenden Säkularisierung – an der persistenten Rolle der Religion für politische Ordnungsentwürfe in der europäischen Neuzeit festhält. Darüber hinaus ist der Begriff der »Konjunkturen«, anders als säkularisierungstheoretische Modelle von »Phasen« oder »Wellen«, besonders dazu geeignet, den vielschichtigen und polyzentrischen Charakter gesellschaftlicher Ordnungsmuster zu unterstreichen. Gesellschaftliche Ordnungsmuster sind ja keine essentialistisch fixierten Größen, sondern werden durch Individuen, Kollektive und Institutionen vertreten, auf verschiedene Art und Weise kommuniziert und eben von Zeit zu Zeit, durch vielfältige andere Faktoren beeinflusst, neu ausgehandelt.

Aufbau der Anthologie

Die Themen der Anthologie reichen von einem Beitrag zum Spannungsfeld zwischen orthodoxer Konformität und politischem Pragmatismus in der Walachai des 16. Jahrhunderts bis hin zu protestantischen Gottesdienstordnungen im Ersten Weltkrieg. Geographisch widmen sich die Beiträge Westeuropa, dem Heiligen Römischen Reich, Ostmitteleuropa und dem Osmanischen Reich. Die einzelnen Beiträge der Anthologie umfassen jeweils drei Teile: Nach einer Einführung in das Thema sowie seinen historischen Kontext werden ausgewählte Quellenstücke präsentiert. Die Quellenauswahl ist dabei mit Anmerkungen und Kommentaren versehen, die eine selbstständige Erarbeitung des Verständnisses der Texte bzw. Bilder ermöglichen sollen. Als Drittes ist den Beiträgen ein auswertender Essay beigegeben, der das Thema anhand der bereitgestellten Quellen noch einmal analysiert und in den wissenschaftlichen Zusammenhang einordnet. Der Essay stellt eine Vertiefung des jeweiligen Themas dar und bietet mit seinen Literaturangaben Hinweise zur Weiterarbeit. Neben dem thematischen Zugang bietet die Anthologie die Möglichkeit, über die sich die unterschiedlichen Kommunikationsformen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik zu erschließen. Dieser stärker methodisch orientierte Zugang wird durch erläuternde Bemerkungen zu den einzelnen Quellengattungen unterstützt.

Die Anthologie ist vor allem für die Lehre in Proseminaren und Übungen, vornehmlich in der Geschichtswissenschaft und der Theologie (Kirchengeschichte) konzipiert worden. Dabei kann aus den Beiträgen eine einsemestrige Lehrveranstaltung zum Thema Religion und Politik in historischer Perspektive abgehalten werden. Anderen Formen der Benutzung, etwa einzelner Beiträge oder Quellen, steht natürlich nichts im Weg.

Der Forschungsbereich 1 des IEG bedankt sich bei Frau Mariam Hammami, M.A., für ihre vorbildliche und glänzende Unterstützung bei der Bearbeitung der Online-Anthologie.

Anmerkungen

<references>

  1. Vgl. Ulrich WILLEMS / Michael MINKENBERG, Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003 (PVS Sonderheft 33/2002), S. 13–41. Vgl. zu den verschiedenen Typen des modernen Religionsverfassungsrechts Winfried BRUGGER, Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation. Staat-Kirche-Modelle und ihre Verhältnis zur Religionsfreiheit, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 253–283.
  2. Matthias POHLIG / Ute LOTZ-HEUMANN / Vera ISAIAZ / Ruth SCHILLING / Heike BOCK / Stefan EHRENPREIS, Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 41), Berlin 2008; Detlef POLLACK / Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.
  3. POLLACK, Detlef / SPOHN, Ulrike / GUTMANN, Thomas / BASU, Helene / WILLEMS, Ulrich, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.
  4. Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Dazu vgl. Ronald G. ASCH / Dagmar FREIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005. Für den jüdischen und osmanischen Kontext siehe David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010, S. 57–98 und Baki TECZAN, The Second Empire: The Transformation of the Ottoman Polity in the Early Modern Era, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 29 (2009), S. 556–572.
  5. Vgl. BLÄNKNER, Reinhard, Historizität, Institutionalität, Symbolizität: grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (ZhF Beiheft 35), S. 71–96, S. 84f.