Essay zu Jüdische Kleiderordnungen: Die visuelle Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Konjunkturen
Wechseln zu: Navigation, Suche
(Created page with "{{Author|Cornelia Aust}} {{Navigation:Kleiderordnungen}}")
 
Zeile 2: Zeile 2:
  
 
{{Navigation:Kleiderordnungen}}
 
{{Navigation:Kleiderordnungen}}
 +
In seinem Werk ''Jüdische Merkwürdigkeiten'' berichtet der Frankfurter lutherische Theologe, Orientalist und Hebraist Johann Jacob Schudt (1664–1722), dass es eigentlich nicht mehr nötig sei, dass Juden weiterhin vorgeschriebene Judenabzeichen wie den gelben Ring an ihrer Kleidung tragen. Denn sie seien problemlos als Juden zu erkennen, da »jetzo die Juden schwarze Mäntel, schwarze Hüte, Kleider gemeiniglich von tuncklen Farben und um den Hals einen Überschlag von leinen Tuch [tragen], die ältere und vornehmste auch wol einen runden weissen mit vielen Falten und Gefächlein gemachten Leinwandenen Kragen, welches, nebst den Parreten [Hüten], noch von der vormahligen üblichen Spanischen Tracht herkommt,« tragen.<ref>Johann Jakob SCHUDT, Jüdische Merckwürdigkeiten Vorstellende Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahr-hunderten mit denen in alle IV Teile der Welt, sonderlich durch Teutschland, zerstreuten Juden zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronik, Frankfurt am Main 1717, Bd. 4, VI. Buch, 14. Kapitel, S. 247f.</ref> Schudt beschreibt hier eine Tracht wie sie typischerweise für Juden im deutschsprachigen Raum in 18. Jahrhundert dargestellt wird. Diese »veraltete« Tracht machte sie als Juden erkennbar. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für die polnisch-litauische Adelsrepublik beschreiben, in der Juden im Allgemeinen die Tracht des polnischen Adels aus dem 16. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert beibehielten, obwohl die Adeligen selbst diese Tracht längst abgelegt hatten.
 +
 +
Kleider und äußere Erscheinungsbilder erzählen bis heute die Geschichte des Bedürfnisses von Individuen und imaginierten Gruppen, Zugehörigkeit und Distinktion auszudrücken. In der Frühen Neuzeit spielten Kleiderordnungen dabei eine zentrale Rolle. Sie waren ein Mittel verschiedener Obrigkeiten, Ordnungsvorstellungen zu kommunizieren und zumindest teilweise auch durchzusetzen. Damit waren Kleider und Kleiderordnungen auch Ausdruck multipler Machtkonstellationen in der Frühen Neuzeit. Über die Jahrhunderte hinweg lassen sich dabei vor allem drei Konstellationen beschreiben. Im Verhältnis zwischen Christen und Juden in Europa finden wir einerseits das gegenseitige Bedürfnis nach Abgrenzung vom »Anderen«, das über Kleidung oder bestimmte Kennzeichen zum Ausdruck gebracht werden sollte. Gleichzeitig näherten sich Teile der jüdischen Bevölkerung in ihrem Kleiderstil immer wieder der nichtjüdischen Bevölkerung an oder partizipierten gemeinsam an sich neu entwickelnden Moden und Kleidungstilen. Gleichzeitig kann die jüdische Bevölkerung nicht auf eine undifferenzierte Einheit festgelegt werden. Soziale, geographische, berufliche und geschlechtsspezifische Differenzen spiegelten sich auch immer in Kleidung und äußerem Auftreten innerhalb der jüdischen Gesellschaft wieder.
 +
 +
Noch in der Antike waren Juden offenbar kaum durch ihre Kleidung oder andere äußerlich sichtbare Merkmale von der nichtjüdischen Bevölkerung zu unterscheiden.<ref>Shaye J. D. COHEN, The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkeley 1999, S. 27f, 31-33.</ref> Erst im Mittelalter begannen christliche und jüdische Obrigkeiten zunehmend auf eine visuelle Distinktion zwischen Juden und Christen zu bestehen. Auf dem 4. Laterankonzil 1215 legten der Papst und kirchliche Würdenträger fest, dass Juden (und Muslime) sich von Christen abweichend zu kleiden hätten, damit sie klar erkennbar seien. Diese Vorschrift zielte vor allem darauf ab, zu engen sozialen und vor allem sexuellen Kontakt zwischen Christen und Juden zu unterbinden. In Folge des 4. Laterankonzils wurden in ganz Europa zahlreiche kirchliche, königliche und städtische Ordnungen erlassen, die Juden zum Tragen verschiedenster Abzeichen verpflichteten. Dies war häufig eine gelber (manchmal auch roter) Ring, der sichtbar an der Kleidung zu tragen war. Viele frühneuzeitliche Darstellungen bilden Juden mit diesem Ring ab. Im deutschsprachigen Raum, wo Juden häufig einen spitzen Judenhut tragen sollten,<ref>Zum mittelalterlichen Judenhut siehe: Sara LIPTON, Dark Mirror: The Medieval Origins of Anti-Jewish Iconography, New York 2014, S. 21-54; Naomi LUBRICH, The Wandering Hat: Iterations of the Medieval Jewish Pointed Cap, in: Jewish History 29 (2015), S. 203-244</ref> wird der gelbe Ring erst ab der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erwähnt.<ref>Alfred RUBENS, A History of Jewish Costume, London 1973, S. 80-97</ref>
 +
 +
 +
''Gegenseitige Distinktion in der Frühen Neuzeit''
 +
 +
Nach der Anordnung der Breslauer Synode 1267, die den Juden das Tragen des spitzen Judenhutes vorschrieb, griff in Polen erst der Petrikover Sejm von 1538 das Thema erneut auf. König Sigismund I. legte darin fest, dass Juden einen gelben Hut oder eine ähnliche Kopfbedeckung zu tragen hätten.<ref>Ausführlicher zu Erlassen in Polen siehe: Magda TETER, »There should be no love between us and them.« Social Life and the Bounds of Jewish and Canon Law in Early Modern Poland, in: Adam TELLER u.a. (Hg.), Social and Cultural Boundaries in Pre-Modern Poland, Oxford u.a. 2010, S. 249-270, hier S. 264. </ref> Begründet wird die Regelung damit, dass die Juden »einen alten Brauch abgeschafft hätten« und keine Zeichen oder Kleider mehr tragen würden, die sie von den Christen unterscheiden würden. Dies verweist darauf, dass sich Juden im 16. Jahrhundert in ihrer Kleidung nicht oder kaum von der der nichtjüdischen Bevölkerung unterschieden. Gleichzeitig befreit die Verordnung reisende Juden von der Pflicht sich zu kennzeichnen. Dies zeigt deutlich die symbolische Funktion der verordneten visuellen Unterscheidung. Man kann davon ausgehen, dass vor allem in kleineren Orten, die Einwohner durchaus um die Zugehörigkeit ihrer Mitmenschen zur jeweiligen Religionsgemeinschaft wussten. Gerade auf Reisen jedoch, wo die Begegnung mit Unbekannten dieses Wissen nicht erlaubte, war die Kennzeichnungspflicht aufgehoben. Dies sollte jüdische Reisende offenbar vor Angriffen schützen, macht aber auch deutlich, dass es vor allem im alltäglichen Zusammenleben darum ging, religiöse Grenzen aufrecht zu erhalten und immer wieder symbolisch auf diese Grenzen zu verweisen. Es steht jedoch außer Frage, dass diese Vorschriften häufig nicht eingehalten wurden.
 +
 +
Doch nicht nur die christliche Obrigkeit war darauf bedacht, eine visuelle Unterscheidung zwischen Juden und Christen herzustellen. Ebenfalls im 13. Jahrhundert erließen die drei rheinischen Gemeinden Speyer, Worms und Mainz die gemeinsamen ''takkanot Schum'', die es Juden untersagten, ihr Haar wie Nichtjuden zu schneiden oder ihren Bart vollständig zu rasieren. Zudem wurde das biblische ''sha‘atnetz'' Verbot, das die Mischung von Leinen und Wolle in einem Faden oder Stoff untersagt, wiederholt. Außerdem wurden Juden allgemein angewiesen, sich nicht wie Christen zu kleiden; Frauen wurden zu »sittlicher« Kleidung ermahnt. Diese allgemeinen Vorgaben wurden auch in den folgenden Jahrhunderten regelmäßig wiederholt, zum Beispiel in der halachischen Literatur, die die religiösen Vorschriften des Judentums zusammenfasste, erklärte und interpretierte. Das bis heute zentrale Werk, der ''Schulchan Aruch'' (hebräisch: »gedeckter Tisch«), der erstmals 1565 gedruckt wurde, fasst diese Vorgaben ebenfalls zusammen. Insgesamt wird hier die Bedeutung von Bescheidenheit betont und von teuren Kleidungsstücken abgeraten.
 +
 +
''Innerjüdische Kleider- und Luxusordnungen in Polen-Litauen''
 +
 +
Bereits ab dem 15. Jahrhundert existierten jedoch auch innerjüdische Kleiderordnungen, die von den Vorstehern verschiedener jüdischer Gemeinden erlassen wurden und weit über die religiös-begründeten Vorschriften, also das Tragen von Bart und Schläfenlocken oder die Trennung von Leinen und Wolle, hinausgingen. Die ersten dieser Vorschriften (''takkanot'') erschienen im 15. Jahrhundert in Italien und Spanien.<ref>Siehe dazu allgemein: Louis FINKELSTEIN, Jewish Self-Government in the Middle Ages, New York 1924. Zu Italien siehe: Diana OWEN HUGHES, Distinguishing Signs: Ear-Rings, Jews and Franciscan Rhetoric in the Italian Renaissance City, in: Past & Present 112 (1986), S. 3-59.</ref> Erst ab dem späten 16. Jahrhundert finden sich solche Vorschriften auch in Mittel- und Ostmitteleuropa, die frühesten bekannten Kleidervorschriften waren Teil der umfangreichen ''takkanot'' der Krakauer jüdischen Gemeinde aus dem Jahr 1595.<ref>Majer BALABAN, Die Krakauer Judengemeinde-Ordnung von 1595 und ihre Nachträge, in: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 10, 11 (1912, 1916), S. 296-360, 88-114. Siehe dazu: Edward FRAM, Hagbalah motarot be-kehilah ha-yehudit be-Krakov shilhe ha-me’ah ha-16 uve-re’shit ha-me’ah ha-17, in: Gal-Ed 18 (2002), S. 11-23.</ref>  Sie sind sehr viel detaillierter als frühere Regelungen und zielen sowohl auf Luxusvermeidung als auch auf die Festlegung sozialer Distinktion ab. Die Vielschichtigkeit der Regelungen zeigt sich daran, dass ganz verschiedene Ebenen unterschieden werden. Während einige Vorschriften unterscheiden, was man im jüdischen Viertel aber nicht außerhalb tragen darf, sind einzelne Kleidungsstücke nur ab einer bestimmten Steuerklasse zulässig. Gleichzeitig wird aber festgelegt, dass diese Kleider nur an bestimmten Feiertagen und Ereignissen wie Hochzeiten oder Beschneidungen getragen werden dürfen.
 +
 +
Neben einem hohen Grad an Gemeindeautonomie, die Juden eine vorteilhafte Rechtslage in der polnisch-litauischen Adelsrepublik gewährte, entwickelten sich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zunehmend regionale und überregionale Instanzen jüdischer Autonomie. Der Vierländerrat (''Va’ad arba arazot''), das Selbstverwaltungsorgan der Juden in Großpolen, Kleinpolen, Ruthenien und Wolhynien, entstand in den 1580er Jahren. Die Delegierten der verschiedenen Regionen trafen sich auf den Messen in Lublin und Jaroslaw und waren für die Aufteilung der an den polnischen König zu zahlenden Steuer zuständig. Darüber hinaus erließen sie jedoch auch eine ganze Reihe an Vorschriften, die alle Bereiche des jüdischen Alltagslebens betrafen.<ref>Zu den ''takkanot'' des Vierländerrats siehe: Israel HALPERIN / Israel BARTAL (Hg.), The Records of the Council of the Four Lands, Jerusalem 1990. Zur jüdischen Selbstverwaltung in Polen siehe: Adam TELLER, Telling the Difference: Some Comparative Perspectives on the Jews' Legal Status in the Polish-Lithuanian Commonwealth and the Holy Roman Empire, in: Polin 22 (2009), S. 109-141. </ref> Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts richteten die wichtigsten jüdischen Gemeinden in Litauen einen eigenen autonomen litauischen Länderrat (''Va’ad Medinat Lita'') ein.<ref>Die hebräischen ''takkanot'' sind veröffentlich bei: Simon DUBNOV, Pinkas medinah o Pinkas Va'ad ha-Kehilot ha-rashiyot bi-medinat Lita, Berlin 1928. Zum litauischen Rat siehe: Anna MICHAŁOWSKA-MYCIELSKA, Sejm Żydów litewskich (1623-1764), Warschau 2014.</ref> Auf der Lubliner Messe 1607 beschäftigte sich der Vierländerrat erstmals mit Kleidervorschriften. Neben dem traditionellen Verbot von ''shatnetz'', enthielten sie vor allem Vorschriften für Frauen. Im Protokollbuch des Litauischen Rates finden sich die selben Vorschriften erstmals 1628 wieder, sind aber um weitere Regelungen ergänzt. Obwohl die ''takkanot'' formelhaft wiederholen, dass diese Vorschriften sowohl für Frauen und Männer als auch für Arme und Reiche gelten, so sind die Regulierungen für Frauen doch deutlich zahlreicher; außerdem werden Unterschiede je nach sozialem Status des Gemeindemitglieds gemacht. Zwar sind die Differenzierungen weniger fein als in vergleichbaren nichtjüdischen Kleiderordnungen, doch das Tragen eines typischen polnischen Gehrocks, des ''żupan'', aus Damast oder Atlas ist nur ab einem bestimmten Vermögen erlaubt (§184). Neun Jahre später wird die dafür erforderliche Vermögenssumme noch einmal erhöht. Außerdem legen die ergänzenden ''takkanot'' von 1637 fest, dass nur Mitglieder der jüdischen Gemeinde mit einem Vermögen von mindestens 20,000 ''złoty'' und ihre engsten Familienmitglieder sich nicht an die Kleiderordnung halten müssen. Einschränkend werden allerdings nichtjüdische Kleidung allgemein und Kleider aus Samt und mit Gold bestickte Kleidung verboten. Das Übertreten der Kleidervorschriften wird mit einer Zahlung an die Almosen-Kasse (''zedakah'') bestraft. Schneidern und anderen jüdischen Handwerkern wurde 1637 sogar die Aufhebung ihres Ansiedlungsrechts in der jeweiligen Gemeinde angedroht, sollten sie verbotene Kleidungsstücke oder Schmuck anfertigen. Allerdings haben wir keine Zeugnisse darüber, ob und wie oft solche Strafen ausgesprochen wurden.
 +
 +
Ähnliche Ausnahmen für Wohlhabende finden sich auch in den ''takkanot'' der jüdischen Gemeinde in Tiktin/Tykocin vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Diese Regelungen verbieten es spezielle Hochzeitskleider mit Verzierungen und Quasten für den Bräutigam anfertigen zu lassen, hier mit Ausnahme von Heiraten in eine der großen und berühmten jüdischen Gemeinden in der Adelsrepublik. In den erneuerten Statuten von 1728 erlaubte der ''kahal'' in Tiktin wohlhabenden Frauen das Tragen bestimmter Ringe, die sonst verboten waren.<ref>Mordechai NADAV (Hg.), The Minutes Book of the Jewish Community Council of Tykocin 1621-1806, Jerusalem 1996, S. 121, 590.</ref> Die letzten ''takkanot'' des litauischen Länderrates von 1761 legten fest, dass nur die Gelehrten (''gaonim'') der fünf Gemeinden (wahrscheinlich die fünf führenden Gemeinden in Litauen: Grodno, Vilna, Slutsk, Pinsk und Brest) von diesen Kleidungsvorschriften ausgenommen waren.<ref>DUBNOV, Pinkas medinah, S. 272.</ref>
 +
 +
 +
''Die Diskussion um Kleidung und Luxus''
 +
 +
Die Gründe für den Erlass von Kleider- und Luxusordnungen, die auch eine Vielzahl an Regelungen zur Ausgestaltung von Festen beschrieben – von der Zahl der einzuladenden Gäste bis zu den zu servierenden Speisen und Getränken – sind vielfältig. Neben der Abgrenzung von den christlichen Nachbarn wird in der Literatur und zum Teil in den Quellen die Furcht vor christlichem Neid genannt. Dies zeigt sich auch in der jüdischen Moralliteratur, deren Umfang ab dem 17. Jahrhundert in ganz Europa stark anwuchs. Rabbi Zvi Hirsch Kaidanover (gest. 1712) ist einer der prominentesten Vertreter dieser Gattung. Geboren in Wilna zog er bald mit seinem Vater Aharon Schmuel Kaidanover (1614-1676) nach Nikolsburg, später nach Fürth und Frankfurt. Sein bekanntestes Werk ''Kav ha-jaschar'', erstmals gedruckt 1705, wurde zu einer der einflussreichsten und am weitesten verbreiteten Werke der jüdischen Moralliteratur und wurde in Hebräisch als auch in einer jiddischen Übersetzung immer wieder gedruckt. Das Werk legt in gut verständlichem Hebräisch die Grundlagen eines gottesfürchtigen Lebens dar. Für Abweichungen von diesen religiösen, kulturellen und sozialen Normen drohen verschiedenste Strafen aus übernatürlicher Quelle.<ref>Rabbi Tzvi HIRSCH KAIDANOVER, Kav HaYashar - The Just Measure. A Delightful Book: For the Benefit of the Sould, the Body and the Spirit, transl. and ed. by Rabbi Avrohom Davis, 2 Bde., Monsey 2007. Siehe auch: Moshe IDEL, On Rabbi Zvi Hirsh Koidanover's Sefer Qav ha-yashar, in: Karl E. GRÖZINGER (Hg.), Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, S. 123-133.</ref> Ein Kapitel seiner Moralschrift widmet Kaidanover der Frage der frommen und sittsamen Kleidung, vor allem bei Frauen, die sittsamer seien müssten als jüdische Männer, da auch sie durch ihre Frömmigkeit Teil haben an der Erlösung des jüdischen Volkes. Daher warnt er davor, den Moden der Christen zu folgen. Außerdem warnt er vor dem Neid und Hass der nichtjüdischen Bevölkerung, die vornehme Kleidung heraufbeschwören würde und hebt hervor, dass schwarze Kleidung der Trauer um die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und dem Exil des jüdischen Volkes angemessen wäre.<ref>KAIDANOVER, Kav HaYashar, Bd. 2, S. 302-305.</ref> Ohne sich an dieser Stelle direkt auf den Chmielnitzki-Aufstand von 1648/1649 zu beziehen, spielt die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im südöstlichen Teil der Adelsrepublik durch die aufständischen Kosaken sicher eine wichtige Rolle für seine Argumentation. In der Einleitung zu seinem Werk beschreibt er die Leiden seiner Familie während des Chmielnitzki-Aufstandes und des darauffolgenden Schwedisch-Polnischen Krieges (1655-1660, Zweiter Nordischer Krieg).<ref>Ebd., Bd. 1, S. 3-5.</ref>
 +
 +
Obwohl auch die Regelungen des litauischen Länderrates in den Jahren nach den Chmielnitzki Aufständen 1648/49 direkt auf die Ereignisse und das Problem des christlichen Neids Bezug nehmen, scheint es zu einfach auf antijüdische Stimmungen und Gewalt als Hauptursache für die Kleidungsvorschriften zu verweisen. In den 1650er und 1660er Jahren verschärfte der litauische Länderrat zwar die Kleidungsvorschriften mit direktem Bezug auf die Ereignisse und wiederholte sie regelmäßig, allerdings verloren sie in den darauffolgenden Jahrzehnten offenbar an Bedeutung. 1761, also ein Jahrhundert später, ist in den ''takkanot'' noch vermerkt, dass Bräute alle Art von Schmuck tragen dürften, allerdings nicht »auf den Straßen und Märkten der Christen.«<ref>DUBNOV, Pinkas medinah, S. 272.</ref> Zwar geht es hier um die Sichtbarkeit von Luxusgütern bei den christlichen Nachbarn, allerdings handelt es sich auch um eine sehr spezifische Regelung. Allerdings sollte man im Blick behalten, dass die Mehrzahl der Regelungen, zumindest auf überregionaler Ebene, bereits vor Mitte des 17. Jahrhunderts erlassen wurden. Die Annahme, Neid sei ein zentrales Motiv für die Kleiderordnungen vertrüge sich auch kaum mit Gershon Hunderts Argument von dem relativ hohen Sicherheitsgefühl der jüdischen Gesellschaft in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. 
 +
 +
==Anmerkungen==
 +
<references/>

Version vom 21. Juni 2016, 15:36 Uhr

Cornelia Aust

Die visuelle Ordnung der frühneuzeitlichen Gesellschaft: Jüdische Kleiderordnungen

In seinem Werk Jüdische Merkwürdigkeiten berichtet der Frankfurter lutherische Theologe, Orientalist und Hebraist Johann Jacob Schudt (1664–1722), dass es eigentlich nicht mehr nötig sei, dass Juden weiterhin vorgeschriebene Judenabzeichen wie den gelben Ring an ihrer Kleidung tragen. Denn sie seien problemlos als Juden zu erkennen, da »jetzo die Juden schwarze Mäntel, schwarze Hüte, Kleider gemeiniglich von tuncklen Farben und um den Hals einen Überschlag von leinen Tuch [tragen], die ältere und vornehmste auch wol einen runden weissen mit vielen Falten und Gefächlein gemachten Leinwandenen Kragen, welches, nebst den Parreten [Hüten], noch von der vormahligen üblichen Spanischen Tracht herkommt,« tragen.[1] Schudt beschreibt hier eine Tracht wie sie typischerweise für Juden im deutschsprachigen Raum in 18. Jahrhundert dargestellt wird. Diese »veraltete« Tracht machte sie als Juden erkennbar. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für die polnisch-litauische Adelsrepublik beschreiben, in der Juden im Allgemeinen die Tracht des polnischen Adels aus dem 16. Jahrhundert bis ins 18. Jahrhundert beibehielten, obwohl die Adeligen selbst diese Tracht längst abgelegt hatten.

Kleider und äußere Erscheinungsbilder erzählen bis heute die Geschichte des Bedürfnisses von Individuen und imaginierten Gruppen, Zugehörigkeit und Distinktion auszudrücken. In der Frühen Neuzeit spielten Kleiderordnungen dabei eine zentrale Rolle. Sie waren ein Mittel verschiedener Obrigkeiten, Ordnungsvorstellungen zu kommunizieren und zumindest teilweise auch durchzusetzen. Damit waren Kleider und Kleiderordnungen auch Ausdruck multipler Machtkonstellationen in der Frühen Neuzeit. Über die Jahrhunderte hinweg lassen sich dabei vor allem drei Konstellationen beschreiben. Im Verhältnis zwischen Christen und Juden in Europa finden wir einerseits das gegenseitige Bedürfnis nach Abgrenzung vom »Anderen«, das über Kleidung oder bestimmte Kennzeichen zum Ausdruck gebracht werden sollte. Gleichzeitig näherten sich Teile der jüdischen Bevölkerung in ihrem Kleiderstil immer wieder der nichtjüdischen Bevölkerung an oder partizipierten gemeinsam an sich neu entwickelnden Moden und Kleidungstilen. Gleichzeitig kann die jüdische Bevölkerung nicht auf eine undifferenzierte Einheit festgelegt werden. Soziale, geographische, berufliche und geschlechtsspezifische Differenzen spiegelten sich auch immer in Kleidung und äußerem Auftreten innerhalb der jüdischen Gesellschaft wieder.

Noch in der Antike waren Juden offenbar kaum durch ihre Kleidung oder andere äußerlich sichtbare Merkmale von der nichtjüdischen Bevölkerung zu unterscheiden.[2] Erst im Mittelalter begannen christliche und jüdische Obrigkeiten zunehmend auf eine visuelle Distinktion zwischen Juden und Christen zu bestehen. Auf dem 4. Laterankonzil 1215 legten der Papst und kirchliche Würdenträger fest, dass Juden (und Muslime) sich von Christen abweichend zu kleiden hätten, damit sie klar erkennbar seien. Diese Vorschrift zielte vor allem darauf ab, zu engen sozialen und vor allem sexuellen Kontakt zwischen Christen und Juden zu unterbinden. In Folge des 4. Laterankonzils wurden in ganz Europa zahlreiche kirchliche, königliche und städtische Ordnungen erlassen, die Juden zum Tragen verschiedenster Abzeichen verpflichteten. Dies war häufig eine gelber (manchmal auch roter) Ring, der sichtbar an der Kleidung zu tragen war. Viele frühneuzeitliche Darstellungen bilden Juden mit diesem Ring ab. Im deutschsprachigen Raum, wo Juden häufig einen spitzen Judenhut tragen sollten,[3] wird der gelbe Ring erst ab der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erwähnt.[4]


Gegenseitige Distinktion in der Frühen Neuzeit

Nach der Anordnung der Breslauer Synode 1267, die den Juden das Tragen des spitzen Judenhutes vorschrieb, griff in Polen erst der Petrikover Sejm von 1538 das Thema erneut auf. König Sigismund I. legte darin fest, dass Juden einen gelben Hut oder eine ähnliche Kopfbedeckung zu tragen hätten.[5] Begründet wird die Regelung damit, dass die Juden »einen alten Brauch abgeschafft hätten« und keine Zeichen oder Kleider mehr tragen würden, die sie von den Christen unterscheiden würden. Dies verweist darauf, dass sich Juden im 16. Jahrhundert in ihrer Kleidung nicht oder kaum von der der nichtjüdischen Bevölkerung unterschieden. Gleichzeitig befreit die Verordnung reisende Juden von der Pflicht sich zu kennzeichnen. Dies zeigt deutlich die symbolische Funktion der verordneten visuellen Unterscheidung. Man kann davon ausgehen, dass vor allem in kleineren Orten, die Einwohner durchaus um die Zugehörigkeit ihrer Mitmenschen zur jeweiligen Religionsgemeinschaft wussten. Gerade auf Reisen jedoch, wo die Begegnung mit Unbekannten dieses Wissen nicht erlaubte, war die Kennzeichnungspflicht aufgehoben. Dies sollte jüdische Reisende offenbar vor Angriffen schützen, macht aber auch deutlich, dass es vor allem im alltäglichen Zusammenleben darum ging, religiöse Grenzen aufrecht zu erhalten und immer wieder symbolisch auf diese Grenzen zu verweisen. Es steht jedoch außer Frage, dass diese Vorschriften häufig nicht eingehalten wurden.

Doch nicht nur die christliche Obrigkeit war darauf bedacht, eine visuelle Unterscheidung zwischen Juden und Christen herzustellen. Ebenfalls im 13. Jahrhundert erließen die drei rheinischen Gemeinden Speyer, Worms und Mainz die gemeinsamen takkanot Schum, die es Juden untersagten, ihr Haar wie Nichtjuden zu schneiden oder ihren Bart vollständig zu rasieren. Zudem wurde das biblische sha‘atnetz Verbot, das die Mischung von Leinen und Wolle in einem Faden oder Stoff untersagt, wiederholt. Außerdem wurden Juden allgemein angewiesen, sich nicht wie Christen zu kleiden; Frauen wurden zu »sittlicher« Kleidung ermahnt. Diese allgemeinen Vorgaben wurden auch in den folgenden Jahrhunderten regelmäßig wiederholt, zum Beispiel in der halachischen Literatur, die die religiösen Vorschriften des Judentums zusammenfasste, erklärte und interpretierte. Das bis heute zentrale Werk, der Schulchan Aruch (hebräisch: »gedeckter Tisch«), der erstmals 1565 gedruckt wurde, fasst diese Vorgaben ebenfalls zusammen. Insgesamt wird hier die Bedeutung von Bescheidenheit betont und von teuren Kleidungsstücken abgeraten.

Innerjüdische Kleider- und Luxusordnungen in Polen-Litauen

Bereits ab dem 15. Jahrhundert existierten jedoch auch innerjüdische Kleiderordnungen, die von den Vorstehern verschiedener jüdischer Gemeinden erlassen wurden und weit über die religiös-begründeten Vorschriften, also das Tragen von Bart und Schläfenlocken oder die Trennung von Leinen und Wolle, hinausgingen. Die ersten dieser Vorschriften (takkanot) erschienen im 15. Jahrhundert in Italien und Spanien.[6] Erst ab dem späten 16. Jahrhundert finden sich solche Vorschriften auch in Mittel- und Ostmitteleuropa, die frühesten bekannten Kleidervorschriften waren Teil der umfangreichen takkanot der Krakauer jüdischen Gemeinde aus dem Jahr 1595.[7] Sie sind sehr viel detaillierter als frühere Regelungen und zielen sowohl auf Luxusvermeidung als auch auf die Festlegung sozialer Distinktion ab. Die Vielschichtigkeit der Regelungen zeigt sich daran, dass ganz verschiedene Ebenen unterschieden werden. Während einige Vorschriften unterscheiden, was man im jüdischen Viertel aber nicht außerhalb tragen darf, sind einzelne Kleidungsstücke nur ab einer bestimmten Steuerklasse zulässig. Gleichzeitig wird aber festgelegt, dass diese Kleider nur an bestimmten Feiertagen und Ereignissen wie Hochzeiten oder Beschneidungen getragen werden dürfen.

Neben einem hohen Grad an Gemeindeautonomie, die Juden eine vorteilhafte Rechtslage in der polnisch-litauischen Adelsrepublik gewährte, entwickelten sich an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert zunehmend regionale und überregionale Instanzen jüdischer Autonomie. Der Vierländerrat (Va’ad arba arazot), das Selbstverwaltungsorgan der Juden in Großpolen, Kleinpolen, Ruthenien und Wolhynien, entstand in den 1580er Jahren. Die Delegierten der verschiedenen Regionen trafen sich auf den Messen in Lublin und Jaroslaw und waren für die Aufteilung der an den polnischen König zu zahlenden Steuer zuständig. Darüber hinaus erließen sie jedoch auch eine ganze Reihe an Vorschriften, die alle Bereiche des jüdischen Alltagslebens betrafen.[8] Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts richteten die wichtigsten jüdischen Gemeinden in Litauen einen eigenen autonomen litauischen Länderrat (Va’ad Medinat Lita) ein.[9] Auf der Lubliner Messe 1607 beschäftigte sich der Vierländerrat erstmals mit Kleidervorschriften. Neben dem traditionellen Verbot von shatnetz, enthielten sie vor allem Vorschriften für Frauen. Im Protokollbuch des Litauischen Rates finden sich die selben Vorschriften erstmals 1628 wieder, sind aber um weitere Regelungen ergänzt. Obwohl die takkanot formelhaft wiederholen, dass diese Vorschriften sowohl für Frauen und Männer als auch für Arme und Reiche gelten, so sind die Regulierungen für Frauen doch deutlich zahlreicher; außerdem werden Unterschiede je nach sozialem Status des Gemeindemitglieds gemacht. Zwar sind die Differenzierungen weniger fein als in vergleichbaren nichtjüdischen Kleiderordnungen, doch das Tragen eines typischen polnischen Gehrocks, des żupan, aus Damast oder Atlas ist nur ab einem bestimmten Vermögen erlaubt (§184). Neun Jahre später wird die dafür erforderliche Vermögenssumme noch einmal erhöht. Außerdem legen die ergänzenden takkanot von 1637 fest, dass nur Mitglieder der jüdischen Gemeinde mit einem Vermögen von mindestens 20,000 złoty und ihre engsten Familienmitglieder sich nicht an die Kleiderordnung halten müssen. Einschränkend werden allerdings nichtjüdische Kleidung allgemein und Kleider aus Samt und mit Gold bestickte Kleidung verboten. Das Übertreten der Kleidervorschriften wird mit einer Zahlung an die Almosen-Kasse (zedakah) bestraft. Schneidern und anderen jüdischen Handwerkern wurde 1637 sogar die Aufhebung ihres Ansiedlungsrechts in der jeweiligen Gemeinde angedroht, sollten sie verbotene Kleidungsstücke oder Schmuck anfertigen. Allerdings haben wir keine Zeugnisse darüber, ob und wie oft solche Strafen ausgesprochen wurden.

Ähnliche Ausnahmen für Wohlhabende finden sich auch in den takkanot der jüdischen Gemeinde in Tiktin/Tykocin vom Beginn des 18. Jahrhunderts. Diese Regelungen verbieten es spezielle Hochzeitskleider mit Verzierungen und Quasten für den Bräutigam anfertigen zu lassen, hier mit Ausnahme von Heiraten in eine der großen und berühmten jüdischen Gemeinden in der Adelsrepublik. In den erneuerten Statuten von 1728 erlaubte der kahal in Tiktin wohlhabenden Frauen das Tragen bestimmter Ringe, die sonst verboten waren.[10] Die letzten takkanot des litauischen Länderrates von 1761 legten fest, dass nur die Gelehrten (gaonim) der fünf Gemeinden (wahrscheinlich die fünf führenden Gemeinden in Litauen: Grodno, Vilna, Slutsk, Pinsk und Brest) von diesen Kleidungsvorschriften ausgenommen waren.[11]


Die Diskussion um Kleidung und Luxus

Die Gründe für den Erlass von Kleider- und Luxusordnungen, die auch eine Vielzahl an Regelungen zur Ausgestaltung von Festen beschrieben – von der Zahl der einzuladenden Gäste bis zu den zu servierenden Speisen und Getränken – sind vielfältig. Neben der Abgrenzung von den christlichen Nachbarn wird in der Literatur und zum Teil in den Quellen die Furcht vor christlichem Neid genannt. Dies zeigt sich auch in der jüdischen Moralliteratur, deren Umfang ab dem 17. Jahrhundert in ganz Europa stark anwuchs. Rabbi Zvi Hirsch Kaidanover (gest. 1712) ist einer der prominentesten Vertreter dieser Gattung. Geboren in Wilna zog er bald mit seinem Vater Aharon Schmuel Kaidanover (1614-1676) nach Nikolsburg, später nach Fürth und Frankfurt. Sein bekanntestes Werk Kav ha-jaschar, erstmals gedruckt 1705, wurde zu einer der einflussreichsten und am weitesten verbreiteten Werke der jüdischen Moralliteratur und wurde in Hebräisch als auch in einer jiddischen Übersetzung immer wieder gedruckt. Das Werk legt in gut verständlichem Hebräisch die Grundlagen eines gottesfürchtigen Lebens dar. Für Abweichungen von diesen religiösen, kulturellen und sozialen Normen drohen verschiedenste Strafen aus übernatürlicher Quelle.[12] Ein Kapitel seiner Moralschrift widmet Kaidanover der Frage der frommen und sittsamen Kleidung, vor allem bei Frauen, die sittsamer seien müssten als jüdische Männer, da auch sie durch ihre Frömmigkeit Teil haben an der Erlösung des jüdischen Volkes. Daher warnt er davor, den Moden der Christen zu folgen. Außerdem warnt er vor dem Neid und Hass der nichtjüdischen Bevölkerung, die vornehme Kleidung heraufbeschwören würde und hebt hervor, dass schwarze Kleidung der Trauer um die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und dem Exil des jüdischen Volkes angemessen wäre.[13] Ohne sich an dieser Stelle direkt auf den Chmielnitzki-Aufstand von 1648/1649 zu beziehen, spielt die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im südöstlichen Teil der Adelsrepublik durch die aufständischen Kosaken sicher eine wichtige Rolle für seine Argumentation. In der Einleitung zu seinem Werk beschreibt er die Leiden seiner Familie während des Chmielnitzki-Aufstandes und des darauffolgenden Schwedisch-Polnischen Krieges (1655-1660, Zweiter Nordischer Krieg).[14]

Obwohl auch die Regelungen des litauischen Länderrates in den Jahren nach den Chmielnitzki Aufständen 1648/49 direkt auf die Ereignisse und das Problem des christlichen Neids Bezug nehmen, scheint es zu einfach auf antijüdische Stimmungen und Gewalt als Hauptursache für die Kleidungsvorschriften zu verweisen. In den 1650er und 1660er Jahren verschärfte der litauische Länderrat zwar die Kleidungsvorschriften mit direktem Bezug auf die Ereignisse und wiederholte sie regelmäßig, allerdings verloren sie in den darauffolgenden Jahrzehnten offenbar an Bedeutung. 1761, also ein Jahrhundert später, ist in den takkanot noch vermerkt, dass Bräute alle Art von Schmuck tragen dürften, allerdings nicht »auf den Straßen und Märkten der Christen.«[15] Zwar geht es hier um die Sichtbarkeit von Luxusgütern bei den christlichen Nachbarn, allerdings handelt es sich auch um eine sehr spezifische Regelung. Allerdings sollte man im Blick behalten, dass die Mehrzahl der Regelungen, zumindest auf überregionaler Ebene, bereits vor Mitte des 17. Jahrhunderts erlassen wurden. Die Annahme, Neid sei ein zentrales Motiv für die Kleiderordnungen vertrüge sich auch kaum mit Gershon Hunderts Argument von dem relativ hohen Sicherheitsgefühl der jüdischen Gesellschaft in der polnisch-litauischen Adelsrepublik.

Anmerkungen

  1. Johann Jakob SCHUDT, Jüdische Merckwürdigkeiten Vorstellende Was sich Curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahr-hunderten mit denen in alle IV Teile der Welt, sonderlich durch Teutschland, zerstreuten Juden zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronik, Frankfurt am Main 1717, Bd. 4, VI. Buch, 14. Kapitel, S. 247f.
  2. Shaye J. D. COHEN, The Beginnings of Jewishness: Boundaries, Varieties, Uncertainties, Berkeley 1999, S. 27f, 31-33.
  3. Zum mittelalterlichen Judenhut siehe: Sara LIPTON, Dark Mirror: The Medieval Origins of Anti-Jewish Iconography, New York 2014, S. 21-54; Naomi LUBRICH, The Wandering Hat: Iterations of the Medieval Jewish Pointed Cap, in: Jewish History 29 (2015), S. 203-244
  4. Alfred RUBENS, A History of Jewish Costume, London 1973, S. 80-97
  5. Ausführlicher zu Erlassen in Polen siehe: Magda TETER, »There should be no love between us and them.« Social Life and the Bounds of Jewish and Canon Law in Early Modern Poland, in: Adam TELLER u.a. (Hg.), Social and Cultural Boundaries in Pre-Modern Poland, Oxford u.a. 2010, S. 249-270, hier S. 264.
  6. Siehe dazu allgemein: Louis FINKELSTEIN, Jewish Self-Government in the Middle Ages, New York 1924. Zu Italien siehe: Diana OWEN HUGHES, Distinguishing Signs: Ear-Rings, Jews and Franciscan Rhetoric in the Italian Renaissance City, in: Past & Present 112 (1986), S. 3-59.
  7. Majer BALABAN, Die Krakauer Judengemeinde-Ordnung von 1595 und ihre Nachträge, in: Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 10, 11 (1912, 1916), S. 296-360, 88-114. Siehe dazu: Edward FRAM, Hagbalah motarot be-kehilah ha-yehudit be-Krakov shilhe ha-me’ah ha-16 uve-re’shit ha-me’ah ha-17, in: Gal-Ed 18 (2002), S. 11-23.
  8. Zu den takkanot des Vierländerrats siehe: Israel HALPERIN / Israel BARTAL (Hg.), The Records of the Council of the Four Lands, Jerusalem 1990. Zur jüdischen Selbstverwaltung in Polen siehe: Adam TELLER, Telling the Difference: Some Comparative Perspectives on the Jews' Legal Status in the Polish-Lithuanian Commonwealth and the Holy Roman Empire, in: Polin 22 (2009), S. 109-141.
  9. Die hebräischen takkanot sind veröffentlich bei: Simon DUBNOV, Pinkas medinah o Pinkas Va'ad ha-Kehilot ha-rashiyot bi-medinat Lita, Berlin 1928. Zum litauischen Rat siehe: Anna MICHAŁOWSKA-MYCIELSKA, Sejm Żydów litewskich (1623-1764), Warschau 2014.
  10. Mordechai NADAV (Hg.), The Minutes Book of the Jewish Community Council of Tykocin 1621-1806, Jerusalem 1996, S. 121, 590.
  11. DUBNOV, Pinkas medinah, S. 272.
  12. Rabbi Tzvi HIRSCH KAIDANOVER, Kav HaYashar - The Just Measure. A Delightful Book: For the Benefit of the Sould, the Body and the Spirit, transl. and ed. by Rabbi Avrohom Davis, 2 Bde., Monsey 2007. Siehe auch: Moshe IDEL, On Rabbi Zvi Hirsh Koidanover's Sefer Qav ha-yashar, in: Karl E. GRÖZINGER (Hg.), Jüdische Kultur in Frankfurt am Main von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1997, S. 123-133.
  13. KAIDANOVER, Kav HaYashar, Bd. 2, S. 302-305.
  14. Ebd., Bd. 1, S. 3-5.
  15. DUBNOV, Pinkas medinah, S. 272.