Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Rekurs auf diesen Begriff steht im Zusammenhang mit der mittlerweile häufig geäußerten Kritik an der Vorstellung einer neuzeitlichen »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften, die in den letzten Jahren die Debatten über das Verhältnis von Religion und Politik wesentlich bestimmt hat.<ref>Eine kritische Einführung zum Diskussionsstand bietet Friedrich Wilhelm GRAF, Art. Säkularisierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit 11 (2010), Sp. 525–542.</ref> Diese Debatten gingen von einer Theorie der »Säkularisierung« als einer in der Moderne sich durchsetzenden »Differenzierung der säkularen Sphäre (Staat, Wirtschaft, Wissenschaft)« (José Casanova) aus, womit die »Freisetzung gesellschaftlicher Bereiche von direkter religiöser Kontrolle« (Hans Joas) gemeint ist.<ref>Hiervon sind die beiden anderen Bedeutungsdimensionen von »Säkularisierung zu unterscheiden: a) Abnehmende Bedeutung der religiösen Überzeugungen und Praktiken in der Gesellschaft; b) Privatisierung der Religion, d.h. Rückzug der Religion in den nicht-öffentlichen Raum; vgl. José Casanova, Rethinking Secularization: A Global Comparative Perspective, in: The Hedgehog Review 8 (2006), S. 7–22 (Zitat: S. 7); Online-Ausgabe: http://www.iasc-culture.org/THR/archives/AfterSecularization/8.12CCasanova.pdf und Hans JOAS, Einleitung, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9–43 (Zitat: S.17).</ref> Aus der umfänglichen Auseinandersetzung mit diesem differenzierungstheoretischen Säkularisierungstheorie, die hier nicht en détail wiedergegeben werden muss,<ref>Vgl. Detlef POLLACK /  Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.</ref> sind zwei zentrale Einwände von bleibendem Gewicht: ''Erstens'' erfasst eine solche Säkularisierungstheorie durch ihre Fixierung auf den makrohistorischen Differenzierungsprozess der »Sphären« von »Religion« und »Politik« in der Moderne nur unzureichend binnengesellschaftlich ungleichzeitige Differenzierungsdynamiken auf der Meso- bzw. Makroebene – also der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen auf der einen Seite und des sozialen Handelns von Individuen und Gruppen auf der anderen Seite. ''Zweitens'' erweist sich die Annahme, dass die Differenzierung (machmal auch: Emanzipation) von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft von der Religion ein epochales Kennzeichen der »Moderne« darstellt, als empirisch kaum belegbar. Die mit den Schlagwörtern der »Rückkehr der Religionen« (Martin Riesenbrodt) oder gar der »Wiederkehr der Götter« (Friedrich Wilhelm Graf) bezeichneten Phänomene des fallweise konfliktträchtigen Mobilisierungspotentials von Religionen in modernen Gesellschaften weisen offensichtlich darauf hin, dass Differenzierungen von Religion und Politik grundsätzlich umkehrbar sind. Nur Prozesse der Entdifferenzierung von Religion und Politik haben im differenzierungstheoretisch fixierten Säkularisierungsverständnis so gut wie gar keinen Ort. Dadurch tritt als Aufgabe die Erforschung von langfristigen Kontinuitäten und Transformationen des Verhältnisses von Religion und Politik auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen in den Blick, welche »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.<ref>Detlef POLLACK / Ulrike SPOHN / Thomas GUTMANN / Helene BASU / Ulrich WILLEMS, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.</ref>
 
Der Rekurs auf diesen Begriff steht im Zusammenhang mit der mittlerweile häufig geäußerten Kritik an der Vorstellung einer neuzeitlichen »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften, die in den letzten Jahren die Debatten über das Verhältnis von Religion und Politik wesentlich bestimmt hat.<ref>Eine kritische Einführung zum Diskussionsstand bietet Friedrich Wilhelm GRAF, Art. Säkularisierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit 11 (2010), Sp. 525–542.</ref> Diese Debatten gingen von einer Theorie der »Säkularisierung« als einer in der Moderne sich durchsetzenden »Differenzierung der säkularen Sphäre (Staat, Wirtschaft, Wissenschaft)« (José Casanova) aus, womit die »Freisetzung gesellschaftlicher Bereiche von direkter religiöser Kontrolle« (Hans Joas) gemeint ist.<ref>Hiervon sind die beiden anderen Bedeutungsdimensionen von »Säkularisierung zu unterscheiden: a) Abnehmende Bedeutung der religiösen Überzeugungen und Praktiken in der Gesellschaft; b) Privatisierung der Religion, d.h. Rückzug der Religion in den nicht-öffentlichen Raum; vgl. José Casanova, Rethinking Secularization: A Global Comparative Perspective, in: The Hedgehog Review 8 (2006), S. 7–22 (Zitat: S. 7); Online-Ausgabe: http://www.iasc-culture.org/THR/archives/AfterSecularization/8.12CCasanova.pdf und Hans JOAS, Einleitung, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9–43 (Zitat: S.17).</ref> Aus der umfänglichen Auseinandersetzung mit diesem differenzierungstheoretischen Säkularisierungstheorie, die hier nicht en détail wiedergegeben werden muss,<ref>Vgl. Detlef POLLACK /  Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.</ref> sind zwei zentrale Einwände von bleibendem Gewicht: ''Erstens'' erfasst eine solche Säkularisierungstheorie durch ihre Fixierung auf den makrohistorischen Differenzierungsprozess der »Sphären« von »Religion« und »Politik« in der Moderne nur unzureichend binnengesellschaftlich ungleichzeitige Differenzierungsdynamiken auf der Meso- bzw. Makroebene – also der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen auf der einen Seite und des sozialen Handelns von Individuen und Gruppen auf der anderen Seite. ''Zweitens'' erweist sich die Annahme, dass die Differenzierung (machmal auch: Emanzipation) von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft von der Religion ein epochales Kennzeichen der »Moderne« darstellt, als empirisch kaum belegbar. Die mit den Schlagwörtern der »Rückkehr der Religionen« (Martin Riesenbrodt) oder gar der »Wiederkehr der Götter« (Friedrich Wilhelm Graf) bezeichneten Phänomene des fallweise konfliktträchtigen Mobilisierungspotentials von Religionen in modernen Gesellschaften weisen offensichtlich darauf hin, dass Differenzierungen von Religion und Politik grundsätzlich umkehrbar sind. Nur Prozesse der Entdifferenzierung von Religion und Politik haben im differenzierungstheoretisch fixierten Säkularisierungsverständnis so gut wie gar keinen Ort. Dadurch tritt als Aufgabe die Erforschung von langfristigen Kontinuitäten und Transformationen des Verhältnisses von Religion und Politik auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen in den Blick, welche »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.<ref>Detlef POLLACK / Ulrike SPOHN / Thomas GUTMANN / Helene BASU / Ulrich WILLEMS, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.</ref>
  
Der Begriff der »Konjunktur« dient schon in seiner mittlerweile klassisch gewordenen historiographischen Verwendung in der französischen Annales-Schule dazu, eben solche Vielschichtigkeiten und Gegenläufigkeiten von Prozessdynamiken zum Ausdruck zu bringen: »Konjunkturen« bezeichnen hier – formal – die »Fluktuationen mit unterschiedlicher Schwingungsbreite« innerhalb eines langfristigen Ensembles von »Zwängen, Grenzen und Schranken«, wobei für Letzteres auch der Begriff der »Strukturen« verwendet wird.<ref>Krzysztof POMIAN, Die Geschichte der Strukturen (1978), in: Jacques REVEL (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 166–201, S. 187f.</ref> Eine zentrale Pointe dieser Unterscheidung von »Konjunktur« und »Struktur« ist, dass für die Geschichtsschreibung diese Ensembles von Zwängen, Grenzen und Schranken in erster Linie durch die Akkumulation von Konjunkturkonstellationen über die Zeit zugänglich werden – und die »Konjunkturen« damit den heuristischen Schlüssel für die Erfassung und Interpretation von langfristigen Strukturentwicklungen bzw. -veränderungen darstellen.<ref>Dieser Konjunkunkturbegriff hält nach einer Phase der Orientierung an mathematischer Berechenbarkeit der Wirtschaftsentwicklung mittlerweile wieder Einzug in die Wirtschaftsgeschichtsschreibung: Vgl. dazu Margrit GRABAS, Wirtschaftskrisen in soziokultureller Perpektive. Plädoyer für eine kulturalisitisch erweiterte Konjunktur(geschichts)forschung, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderhefte, Heft 24: W. ABELSHAUSER / D. GILGEN / A. LEUTZSCH (Hg.): Kulturen der Weltwirtschaft. Göttingen 2012, S. 261–283, S. 263. Vgl. zur Entwicklung des Konjunkturbegriffs in der Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch Alexander NÜTZENADEL, Der Krisenbegriff der modernen Ökonomie, in: Thomas MERGEL (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt 2012, S. 47–58.</ref>
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Der Begriff der »Konjunktur« dient schon in seiner mittlerweile klassisch gewordenen historiographischen Verwendung in der französischen Annales-Schule dazu, eben solche Vielschichtigkeiten und Gegenläufigkeiten von Prozessdynamiken zum Ausdruck zu bringen: »Konjunkturen« bezeichnen hier – formal – die »Fluktuationen mit unterschiedlicher Schwingungsbreite« innerhalb eines langfristigen Ensembles von »Zwängen, Grenzen und Schranken«, wobei für Letzteres auch der Begriff der »Strukturen« verwendet wird.<ref>Krzysztof POMIAN, Die Geschichte der Strukturen (1978), in: Jacques REVEL (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 166–201, S. 187f.</ref> Eine zentrale Pointe dieser Unterscheidung von »Konjunktur« und »Struktur« ist, dass für die Geschichtsschreibung diese Ensembles von Zwängen, Grenzen und Schranken in erster Linie durch die Akkumulation von Konjunkturkonstellationen über die Zeit zugänglich werden – und die »Konjunkturen« damit den heuristischen Schlüssel für die Erfassung und Interpretation von langfristigen Strukturentwicklungen bzw. -veränderungen darstellen.<ref>Dieser Konjunkunkturbegriff hält nach einer Phase der Orientierung an mathematischer Berechenbarkeit der Wirtschaftsentwicklung mittlerweile wieder Einzug in die Wirtschaftsgeschichtsschreibung: Vgl. dazu Margrit GRABAS, Wirtschaftskrisen in soziokultureller Perpektive. Plädoyer für eine kulturalisitisch erweiterte Konjunktur(geschichts)forschung, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderhefte, Heft 24: W. ABELSHAUSER / D. GILGEN / A. LEUTZSCH (Hg.): Kulturen der Weltwirtschaft. Göttingen 2012, S. 261–283, S. 263. Vgl. zur Entwicklung des Konjunkturbegriffs in der Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch Alexander NÜTZENADEL, Der Krisenbegriff der modernen Ökonomie, in: Thomas MERGEL (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt 2012, S. 47–58.</ref> In diesem Sinn stellen die Beiträge zu der Anthologie Bausteine für eine Konjunkurgeschichte des Verhältnisses von Religion und Politik dar.
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Diese Perspektive kann mit Bezug auf die oben umrissene Debatte nun keineswegs das Anliegen haben, Phänomene der »Säkularisierung« – auch in einem differenzierungstheoretischen Verständnis – schlichtweg zu läugnen. Das wäre ja nicht nur empirisch unhaltbar, sondern auch konzeptionell problematisch, weil damit eine durchaus wichtige Facette in der Dynamik des Verhältnisses von Religion und Politik aus dem Blick geraten würde. Allerdings verfolgt die hier vertretene konjunkturgeschichtliche Perspektive das Anliegen, zur »Säkularisierung« alternative Dynamiken in der Verhältnisbestimmung von Religion und Politik zu konturieren, die mit der im 15. / 16. Jahrhundert anhebenden Ausbildung moderner Staatlichkeit zutage traten:
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Konkret werden diese Dynamiken am Wandel gesellschaftlicher Ordnungsmuster fassbar. Denn diese Ordnungsmuster haben sich in der Verzahnung der vielschichtigen, regional geprägten Staatsbildungsprozesse und ihren jeweiligen religionskulturellen Bedingungen im lateinischen und orthodoxen Christentum, im Judentum und im islamischen Osmanischen Reich zeitlich wie auch institutionell unterschiedlich ausgeformt, und wurden durch die damit gegebenen Pfadabhängigkeiten nachhaltig geprägt.<ref>Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Dazu vgl. Ronald G. ASCH / Dagmar FREIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005. Für den jüdischen und osmanischen Kontext siehe David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010, S. 57–98 und Baki TECZAN, The Second Empire: The Transformation of the Ottoman Polity in the Early Modern Era, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 29 (2009), S. 556–572.</ref> Für solche gesellschaftlichen Ordnungsmuster ist die inhärente Verbindung religiöser Ordnungsvorstellungen und politischer Ordnungsentwürfe bestimmend, und zwar auch dann (oder vielleicht sogar: gerade dann) wo sich das politische Handeln bzw. dessen symbolische Ordnungen in größtmögliche Distanz zum Religiösen setzen.
  
  

Version vom 30. April 2017, 14:16 Uhr

Themen der Quellenanthologie

Einleitung

Christopher Voigt-Goy

Das Verhältnis von Religion und Politik ist bis heute von gesellschaftlicher Bedeutung. Die Quellenanthologie verfolgt anhand ausgewählter Beispiele den Wandel dieses Verhältnisses in der europäischen Neuzeit. Als ein Ziel hat sich diese Anthologie gesetzt, zu einer historisch differenzierten Einschätzung der gesellschaftlichen Bedeutung von religiösen Vorstellungen, Symbolen und Praktiken und deren Gewicht für politisches Handeln beizutragen.

1. Aufbau der Anthologie

Die Anthologie richtet sich an Studierende, Forschende und Lehrende, aber auch an andere historisch und thematisch Interessierte. Sie ist in erster Linie für die Lehre in Proseminaren und Übungen, etwa in der Geschichtswissenschaft oder auch der Kirchengeschichte entworfen worden. Die Beiträge können modular verwendet werden, also einzeln und unabhängig voneinander, als Ganzes oder in Teilen. Die Anthologie bietet insgesamt die Grundlage für einen einsemestrigen Kurs zum Thema des neuzeitlichen Verhältnisses von Religion und Politik an.

Die thematischen Beiträge umspannen den Zeitraum vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert, und widmen sich geographisch Westeuropa, dem Heiligen Römischen Reich, Ostmitteleuropa und dem Osmanischen Reich. Neben christlichen und säkularen Konzeptionen des Verhältnisses von Religion und Politik werden auch jüdische und islamische Konzeptionen vorgestellt. Die einzelnen Beiträge bestehen aus drei Elementen: Nach einer Einführung in das jeweilige Thema sowie seinen historischen Kontext werden ausgewählte Quellenstücke präsentiert. Die Quellenauswahl ist dabei mit Anmerkungen und Kommentaren versehen, die eine selbstständige Erarbeitung des Verständnisses der Quellen ermöglichen. Als Drittes ist den Beiträgen ein auswertender Essay beigegeben, der das Thema anhand der bereitgestellten Quellen noch einmal eingehend analysiert und in den wissenschaftlichen Zusammenhang einordnet.

Ein stärker methodisch orientierter Zugang zu der Anthologie kann über die verschiedenen Quellengattungen erfolgen: Neben verschiedenen Arten von Textquellen liegen eine Reihe von Bildquellen vor. Hierdurch kommt die breite Palette an Kommunikationsformen in den Blick, mit denen die Vorstellungen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik zeit- und kontextspezifisch gestaltet sowie verbreitet wurden. Diese Kommunikationsformen sind mit jeweils spezifischen Interpretationsproblemen verbunden, auf die in den erläuternden Bemerkungen zu den einzelnen Quellengattungen hingewiesen wird.

2. Konzeptionelle Perspektiven

In den Beiträgen zu der Anthologie wird das gesellschaftliche Verhältnis von Religion und Politik als eins verstanden, das sich fortlaufend verändert: Religiöse Symbole, Praktiken und Überzeugungen wurden in bestimmten Situationen als Grundlage oder Ziele politischen Handelns herangezogen; in andere Situationen wurde ihnen diese Bedeutung nicht beigemessen, sie wurden teilweise einfach ignoriert oder sogar in ihrer gesellschaftspolitischen Relevanz aggressiv bekämpft. Dennoch standen sie auch dann noch als Ressource gesellschaftlicher Mobilisierung, Orientierung und Legitimation politischen Handelns zu Verfügung, um zu entsprechender Zeit und in der entsprechenden Situation aufs Neue aktiviert zu werden. Für solche Schwankungen der gesellschaftspolitischen Legitimierungs-, Orientierungs- und Mobilisierungskraft religiöser Symbole, Praktiken und Überzeugungen wird hier der Begriff der »Konjunkturen« verwendet.

Der Rekurs auf diesen Begriff steht im Zusammenhang mit der mittlerweile häufig geäußerten Kritik an der Vorstellung einer neuzeitlichen »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften, die in den letzten Jahren die Debatten über das Verhältnis von Religion und Politik wesentlich bestimmt hat.[1] Diese Debatten gingen von einer Theorie der »Säkularisierung« als einer in der Moderne sich durchsetzenden »Differenzierung der säkularen Sphäre (Staat, Wirtschaft, Wissenschaft)« (José Casanova) aus, womit die »Freisetzung gesellschaftlicher Bereiche von direkter religiöser Kontrolle« (Hans Joas) gemeint ist.[2] Aus der umfänglichen Auseinandersetzung mit diesem differenzierungstheoretischen Säkularisierungstheorie, die hier nicht en détail wiedergegeben werden muss,[3] sind zwei zentrale Einwände von bleibendem Gewicht: Erstens erfasst eine solche Säkularisierungstheorie durch ihre Fixierung auf den makrohistorischen Differenzierungsprozess der »Sphären« von »Religion« und »Politik« in der Moderne nur unzureichend binnengesellschaftlich ungleichzeitige Differenzierungsdynamiken auf der Meso- bzw. Makroebene – also der Ebene der gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen auf der einen Seite und des sozialen Handelns von Individuen und Gruppen auf der anderen Seite. Zweitens erweist sich die Annahme, dass die Differenzierung (machmal auch: Emanzipation) von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft von der Religion ein epochales Kennzeichen der »Moderne« darstellt, als empirisch kaum belegbar. Die mit den Schlagwörtern der »Rückkehr der Religionen« (Martin Riesenbrodt) oder gar der »Wiederkehr der Götter« (Friedrich Wilhelm Graf) bezeichneten Phänomene des fallweise konfliktträchtigen Mobilisierungspotentials von Religionen in modernen Gesellschaften weisen offensichtlich darauf hin, dass Differenzierungen von Religion und Politik grundsätzlich umkehrbar sind. Nur Prozesse der Entdifferenzierung von Religion und Politik haben im differenzierungstheoretisch fixierten Säkularisierungsverständnis so gut wie gar keinen Ort. Dadurch tritt als Aufgabe die Erforschung von langfristigen Kontinuitäten und Transformationen des Verhältnisses von Religion und Politik auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen in den Blick, welche »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.[4]

Der Begriff der »Konjunktur« dient schon in seiner mittlerweile klassisch gewordenen historiographischen Verwendung in der französischen Annales-Schule dazu, eben solche Vielschichtigkeiten und Gegenläufigkeiten von Prozessdynamiken zum Ausdruck zu bringen: »Konjunkturen« bezeichnen hier – formal – die »Fluktuationen mit unterschiedlicher Schwingungsbreite« innerhalb eines langfristigen Ensembles von »Zwängen, Grenzen und Schranken«, wobei für Letzteres auch der Begriff der »Strukturen« verwendet wird.[5] Eine zentrale Pointe dieser Unterscheidung von »Konjunktur« und »Struktur« ist, dass für die Geschichtsschreibung diese Ensembles von Zwängen, Grenzen und Schranken in erster Linie durch die Akkumulation von Konjunkturkonstellationen über die Zeit zugänglich werden – und die »Konjunkturen« damit den heuristischen Schlüssel für die Erfassung und Interpretation von langfristigen Strukturentwicklungen bzw. -veränderungen darstellen.[6] In diesem Sinn stellen die Beiträge zu der Anthologie Bausteine für eine Konjunkurgeschichte des Verhältnisses von Religion und Politik dar.

Diese Perspektive kann mit Bezug auf die oben umrissene Debatte nun keineswegs das Anliegen haben, Phänomene der »Säkularisierung« – auch in einem differenzierungstheoretischen Verständnis – schlichtweg zu läugnen. Das wäre ja nicht nur empirisch unhaltbar, sondern auch konzeptionell problematisch, weil damit eine durchaus wichtige Facette in der Dynamik des Verhältnisses von Religion und Politik aus dem Blick geraten würde. Allerdings verfolgt die hier vertretene konjunkturgeschichtliche Perspektive das Anliegen, zur »Säkularisierung« alternative Dynamiken in der Verhältnisbestimmung von Religion und Politik zu konturieren, die mit der im 15. / 16. Jahrhundert anhebenden Ausbildung moderner Staatlichkeit zutage traten:

Konkret werden diese Dynamiken am Wandel gesellschaftlicher Ordnungsmuster fassbar. Denn diese Ordnungsmuster haben sich in der Verzahnung der vielschichtigen, regional geprägten Staatsbildungsprozesse und ihren jeweiligen religionskulturellen Bedingungen im lateinischen und orthodoxen Christentum, im Judentum und im islamischen Osmanischen Reich zeitlich wie auch institutionell unterschiedlich ausgeformt, und wurden durch die damit gegebenen Pfadabhängigkeiten nachhaltig geprägt.[7] Für solche gesellschaftlichen Ordnungsmuster ist die inhärente Verbindung religiöser Ordnungsvorstellungen und politischer Ordnungsentwürfe bestimmend, und zwar auch dann (oder vielleicht sogar: gerade dann) wo sich das politische Handeln bzw. dessen symbolische Ordnungen in größtmögliche Distanz zum Religiösen setzen.


3. Ergebnisse

Der Forschungsbereich 1 des IEG bedankt sich bei Frau Mariam Hammami, M.A., für ihre vielfältige Unterstützung bei der Bearbeitung der Online-Anthologie.

Anmerkungen

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  1. Eine kritische Einführung zum Diskussionsstand bietet Friedrich Wilhelm GRAF, Art. Säkularisierung, in: Enzyklopädie der Neuzeit 11 (2010), Sp. 525–542.
  2. Hiervon sind die beiden anderen Bedeutungsdimensionen von »Säkularisierung zu unterscheiden: a) Abnehmende Bedeutung der religiösen Überzeugungen und Praktiken in der Gesellschaft; b) Privatisierung der Religion, d.h. Rückzug der Religion in den nicht-öffentlichen Raum; vgl. José Casanova, Rethinking Secularization: A Global Comparative Perspective, in: The Hedgehog Review 8 (2006), S. 7–22 (Zitat: S. 7); Online-Ausgabe: http://www.iasc-culture.org/THR/archives/AfterSecularization/8.12CCasanova.pdf und Hans JOAS, Einleitung, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 9–43 (Zitat: S.17).
  3. Vgl. Detlef POLLACK / Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.
  4. Detlef POLLACK / Ulrike SPOHN / Thomas GUTMANN / Helene BASU / Ulrich WILLEMS, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.
  5. Krzysztof POMIAN, Die Geschichte der Strukturen (1978), in: Jacques REVEL (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 166–201, S. 187f.
  6. Dieser Konjunkunkturbegriff hält nach einer Phase der Orientierung an mathematischer Berechenbarkeit der Wirtschaftsentwicklung mittlerweile wieder Einzug in die Wirtschaftsgeschichtsschreibung: Vgl. dazu Margrit GRABAS, Wirtschaftskrisen in soziokultureller Perpektive. Plädoyer für eine kulturalisitisch erweiterte Konjunktur(geschichts)forschung, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderhefte, Heft 24: W. ABELSHAUSER / D. GILGEN / A. LEUTZSCH (Hg.): Kulturen der Weltwirtschaft. Göttingen 2012, S. 261–283, S. 263. Vgl. zur Entwicklung des Konjunkturbegriffs in der Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch Alexander NÜTZENADEL, Der Krisenbegriff der modernen Ökonomie, in: Thomas MERGEL (Hg.), Krisen verstehen. Historische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Frankfurt 2012, S. 47–58.
  7. Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Dazu vgl. Ronald G. ASCH / Dagmar FREIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005. Für den jüdischen und osmanischen Kontext siehe David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010, S. 57–98 und Baki TECZAN, The Second Empire: The Transformation of the Ottoman Polity in the Early Modern Era, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 29 (2009), S. 556–572.