Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit

Aus Konjunkturen
Wechseln zu: Navigation, Suche
Themen der Quellenanthologie

Einleitung

Christopher Voigt-Goy

Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Politik in den europäischen Gesellschaften wird seit geraumer Zeit intensiv diskutiert. In den Debatten tritt eine nachhaltige Veränderung in der Selbstwahrnehmung gegenwärtiger Gesellschaften zu Tage. Denn religiöse Überzeugungen und Symbolwelten besitzen offenbar auch in Verfassungs- und Rechtsordnungen, die auf die religiöse Neutralität des Staates bedacht sind, ein dauerhaftes und fallweise konfliktträchtiges gesellschaftspolitisches Mobilisierungspotential. [1] Die gegenwartsdiagnostische Deutung dieses Phänomens ist im Detail heftig umstritten. Grundsätzlich zeichnen sich die wissenschaftlichen Deutungsdebatten jedoch durch ein lebhaftes Interesse aus, langfristige Entwicklungen in die Analyse des Phänomens mit einzubeziehen. Dies geschieht meist in Auseinandersetzung mit der Vorstellung einer progressiven »Säkularisierung« der europäischen Gesellschaften seit der Frühen Neuzeit, die zu einer funktionalen Differenzierung von Politik und Religion und einem gesellschaftlichen Bedeutungsschwund religiöser Orientierungen geführt habe.[2] In den historischen Auseinandersetzungen richtet sich die Aufmerksamkeit neben Kontinuitäten auf Transformationen in den gesellschaftlichen Verhältnisbestimmungen von Religion und Politik, die »durch Gegenläufigkeiten, Rückschläge, kulturelle Pfadabhängigkeiten und von Akteurskonstellationen abhängige Zufälligkeiten gekennzeichnet« sind.[3]

Solche Dynamiken der Gegenläufigkeit, der Pfadabhängigkeiten und von Rückschlägen sind mit der im 15./16. Jahrhundert anhebenden Ausbildung moderner Staatlichkeit verknüpft, durch die das Verhältnis von Religion und Politik bis in unsere Gegenwart hinein bestimmt wird. Die vielschichtigen, regional geprägten Staatsbildungsprozesse wurden zudem unter ihren jeweiligen religionskulturellen Bedingungen im lateinischen und orthodoxen Christentum, im Judentum und im islamischen Osmanischen Reich zeitlich wie auch institutionell unterschiedlich ausgeformt.[4] Die Verbindung von Staatsbildungsprozessen und Religionskulturen hat zeitspezifische gesellschaftliche Ordnungsmuster hervorgebracht, in denen religiöse Ordnungsvorstellungen und politische Ordnungsentwürfe teils ineinander griffen, teils dezidiert auseinandergehalten wurden. Diese Ordnungsmuster wurden neuen Herausforderungen immer wieder angepasst und daher in andere Konstellationen des gesellschaftlichen Verhältnisses von Religion und Politik überführt. Eine zeitweise »Autonomisierung des Politischen« in solchen Konjunkturen der neuzeitlichen Ver- und Entflechtung von Religion und Politik ist jedoch nicht mit einer strukturellen Ablösung beider Sphären zu verwechseln.[5] Vielmehr weisen derartige Konjunkturen der Ver- und Entflechtung auf die persistente Bedeutung der Religion für politische Ordnungsentwürfe in der Neuzeit hin und zeigen den polyzentrischen und reversible Charakter von gesellschaftlichen Ordnungsmustern auf.

Die Beiträge dieser Anthologie sind historischen Konstellationen gewidmet, in denen das sich wandelnde Verhältnis von Religion und Politik in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit zwischen ihrer wechselseitigen Instrumentalisierung und dezidierten Trennung zum Ausdruck kommt. Die Beiträge sind aus der gemeinsamen Arbeit des Forschungsbereich »Etablierung von Differenz: religiös-poitische Konfikte und Konsensstiftungen« des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte heraus enstanden.

Anmerkungen

<references>

  1. Vgl. Ulrich WILLEMS / Michael MINKENBERG, Politik und Religion im Übergang – Tendenzen und Forschungsfragen am Beginn des 21. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003 (PVS Sonderheft 33/2002), S. 13–41. Vgl. zu den verschiedenen Typen des modernen Religionsverfassungsrechts Winfried BRUGGER, Von Feindschaft über Anerkennung zur Identifikation. Staat-Kirche-Modelle und ihre Verhältnis zur Religionsfreiheit, in: Hans JOAS / Klaus WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, S. 253–283.
  2. Matthias POHLIG / Ute LOTZ-HEUMANN / Vera ISAIAZ / Ruth SCHILLING / Heike BOCK / Stefan EHRENPREIS, Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 41), Berlin 2008; Detlef POLLACK / Christel GÄRTNER / Karl GABRIEL (Hg.), Umstrittene Säkularisierung: Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012.
  3. POLLACK, Detlef / SPOHN, Ulrike / GUTMANN, Thomas / BASU, Helene / WILLEMS, Ulrich, Einleitung, in: dies. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularität, Bielefeld 2013, S. 9–23, S. 12.
  4. Wolfgang REINHARD, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1999. Dazu vgl. Ronald G. ASCH / Dagmar FREIST (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln u.a. 2005. Für den jüdischen und osmanischen Kontext siehe David B. RUDERMAN, Early Modern Jewry. A New Cultural History. Princeton, Oxford: Princeton University Press, 2010, S. 57–98 und Baki TECZAN, The Second Empire: The Transformation of the Ottoman Polity in the Early Modern Era, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 29 (2009), S. 556–572.
  5. Vgl. BLÄNKNER, Reinhard, Historizität, Institutionalität, Symbolizität: grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen, in: STOLLBERG-RILINGER, Barbara (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005 (ZhF Beiheft 35), S. 71–96, S. 84f. Hier auch der Hinweis auf die »Konjunkturen«.