Essay zu Zur Genese des modernen Toleranzgedankens: Das sozinianische Plädoyer für Religionsfreiheit

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Kęstutis Daugirdas

Zur Genese des modernen Toleranzgedankens: Das sozinianische Plädoyer für Religionsfreiheit


I. Verschiedene Modelle des Umgangs mit der konfessionellen Differenz in Polen-Litauen und ihre Deutung in der Forschung

Die infolge der Reformation eingetretene konfessionelle Ausdifferenzierung des lateinischen Christentums stellte dessen Vertreter in Polen-Litauen vor dieselbe Frage wie die Christen in Mittel- und Westeuropa: Wie geht man mit der theologischen Differenz um, die sich in einander bisweilen ausschließenden Kirchentümern konkretisiert? In Polen-Litauen wurden drei Modelle des Umgangs entwickelt, die auf verschiedenen Ebenen des gesellschaftlichen Zusammenlebens zur Geltung kamen. Das erste Modell war rein politischen Zuschnitts und zielte auf die Ausklammerung der konfessionellen Fragen ab, wenn es um die politische Partizipation inklusive der Ämtervergabe ging. Repräsentativ für dieses Modell waren die im Großfürstentum Litauen 1563 und 1568 verabschiedeten Privilege von Sigismund II. August und die Warschauer Konföderation von 1573. Das zweite Modell verband Politisches mit Theologischem: Die Vertreter des Reformiertentums, der Böhmischen Brüder und des Luthertums setzten auf ein von dem theologischen Konsens ermöglichtes gemeinsames politisches Auftreten, was sie mit dem Consensus Sendomirensis von 1570 unterstrichen. Das letzte – dritte – Modell reflektierte über die theologische Pluralität als solche, die es explizit bejahte. Propagiert nur von einer kleinen Minderheitenkirche, den sozinianisch gesinnten Antitrinitariern, differenzierte es zwischen der Religion und ihrem jeweils unterschiedlichen Verständnis, wobei die gesellschaftliche Akzeptanz aller divergierenden Richtungen mit dem prinzipiell pluralistischen Charakter des Christentums begründet wurde.

Wenn nun das erste und das dritte der genannten Modelle genauer in den Blick genommen werden, soll dies aus der Perspektive der folgenden Doppelfrage erfolgen. Erstens: Inwieweit trugen die beiden Modelle zur Aufrechterhaltung der Multikonfessionalität im Polnisch-Litauischen Gemeinwesen bei? Zweitens: Können sie als ein Ausdruck der polnisch-litauischen Toleranz betrachtet werden, wie sie vor allem von den führenden polnischen Forschern der Nachkriegszeit, etwa von Janusz Tazbir, Tadeusz Wasilewski, Zbigniew Ogonowski und mit einigen Vorbehalten auch von Stanisław Salmonowicz, gedeutet wurden?[1] Im Hinblick auf die zweite Frage muss freilich vorangeschickt werden, dass die letztgenannte Deutung in jüngerer Zeit relativiert wurde. Der Literaturwissenschaftler Piotr Wilczek etwa bescheinigte bei seiner Untersuchung des religiösen Diskurses in Polen-Litauen den Fanatismus den Vertretern aller Konfessionen.[2] Christian Preuße nannte wiederum die Interpretation der Warschauer Konföderation mithilfe des Toleranzparadigmas nur bedingt überzeugend, weil anachronistisch: Der moderne Toleranzgedanke sei erst in der Aufklärung aufgekommen. In der Warschauer Konföderation erblickte Preuße einen strukturgeschichtlichen Meilenstein auf dem Weg der Ausdifferenzierung eines autonomen Handlungsfeldes Politik, das sich von theologischen Erwägungen emanzipiert habe und einer eigenen Funktionslogik und Ethik gefolgt sei.[3]

Die folgenden Ausführungen setzen diese Einwände voraus, ohne sie noch das ältere Toleranzparadigma zu teilen.[4] Es wird gezeigt, dass das Modell der politischen Einbindung der Andersgläubigen mittels Ausklammerung der konfessionellen Fragen eine wichtige Voraussetzung für die Genese der Begründung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Dissenters mit dem pluralistischen Christentumsverständnis bildete und dass erst die Verbindung von dem ersten mit dem dritten Modell das Toleranzverständnis ermöglichte, wie es dann von der europäischen Aufklärung aufgenommen wurde.


II. Politische Einbindung der Andersgläubigen mittels Ausklammerung der konfessionellen Differenzen

Soweit ersichtlich, wurde das Modell der politischen Einbindung der Andersgläubigen mittels Ausklammerung der konfessionellen Differenzen in seiner reinen Gestalt zum ersten Mal in dem Privileg des polnischen Königs und litauischen Großfürsten Sigismund II. August artikuliert, das am 6. Juni 1563 auf dem Reichstag des Großfürstentums Litauen in Wilna verabschiedet wurde. Wie in solchen Fällen üblich, in der litauischen Kanzlei vorbereitet und nach seiner Verabschiedung bei Nikolaus Radziwiłł (gen. der Schwarze, 1515–1565) als dem damaligen Großkanzler aufbewahrt, sah das Privileg vor, dass alle Angehörigen des Ritterstandes und der szlachta[5], sowohl litauischer als auch russischer Abstammung, vorausgesetzt sie waren christlichen Glaubens, alle Freiheiten genießen durften, die seit alters dem Stand der Ritter und der szlachta zugestanden wurden. Gleichzeitig wurden die bestehenden konfessionellen Hindernisse beseitigt, die aufgrund fehlender Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche den jeweiligen Kandidaten bei der Vergabe von Würden (Dignitäten) und Ämtern durch den Großfürsten erwuchsen: In den Herrenrat (Rada) und in alle Landämter des Großfürstentums Litauen durften von nun an nicht nur die Mitglieder »der Kirche des römischen Gesetzes«, sondern alle »Menschen des ritterlichen Standes, aus der szlachta stammend« eingesetzt werden. Auch hier galt als einzige Voraussetzung der ohne weitere Charakterisierung benannte »christliche Glaube«.[6]

Mit der Verabschiedung des Privilegs wurde die seit Langem fällige rechtliche Absicherung der Adligen vollzogen, die nicht der römisch-katholischen Kirche angehörten, wobei man auf juristischer Ebene bei der Abfassung des Rechtsdokuments sehr geschickt vorgegangen war. Das Problem der konfessionellen Zugehörigkeit der Adligen bei der Vergabe der Ämter hatte man auf dem Weg überkonfessioneller Öffnung gelöst. Unter dem Begriff des »christlichen Glaubens« konnten sich nicht nur die Anhänger der Reformation – und das war immerhin die Hälfte der auf dem Wilnaer Reichstag anwesenden Senatoren, die dem Privileg zustimmten (11 von 22) –, sondern die Vertreter aller Kirchen, also auch Griechisch-Orthodoxe, wiederfinden.[7] Angesichts der geo-politischen Lage des Großfürstentums Litauen war dies ein großer Fortschritt, denn es schuf gute juristische Voraussetzungen für die dauerhafte Integration andersgläubiger Adliger in das gesellschaftliche Leben und festigte die Positionen der Anhänger der Reformation, die nun nicht mehr befürchten mussten, aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen von politischen Ämtern ausgeschlossen zu werden.[8] Am 1. August 1568 in Grodno in präzisierter Fassung wiederholt, sicherte das Privileg die Freiheiten des Adels bei der Ausübung der jeweils gewählten Konfession, und es wirkte vorbereitend auf die Annahme der Warschauer Konföderation im Großfürstentum,[9] die ihrerseits im Dritten Litauischen Statut (1588) als eine konstitutive gesetzliche Regelung rezipiert wurde.[10]

In genetischer Hinsicht bildete das Wilnaer bzw. Grodnoer Privileg jedenfalls eine wichtige Vorstufe zu der Warschauer Konföderation. Wie von Tomasz Kempa jüngst beobachtet, führte es nach der Union von Lublin (1569) zu einer Verstärkung der Bemühungen in den Reihen der polnischen und litauischen Protestanten, die Gleichberechtigung der Konfessionen auf dem gesamten Gebiet der Adelsrepublik mittels des Gesetzesbeschlusses zu erreichen.[11] Besonders aktuell wurde die Lösung der Frage der politisch-rechtlichen Absicherung im Jahr 1573, als nach dem Tod von Sigismund II. August Heinrich von Valois (1551–1589, reg. 1573–1574), ein Teilnehmer der Bartholomäusnacht in Frankreich, zum polnischen König und litauischen Großfürsten gewählt wurde. Diese Situation begünstigte im Januar 1573 die Verabschiedung der Warschauer Konföderation,[12] deren Stoßrichtung im Umgang mit der theologischen Pluralität sich kaum von den beiden litauischen Privilegen unterschied – außer dass sie umfassender formuliert wurde.

Durch die Konföderation verpflichtete sich der Adel und, nachdem er den Eid abgelegt hatte, auch der polnische König bzw. litauische Großfürst zur prinzipiellen Ausklammerung der konfessionellen Differenzen auf dem Feld des politischen Handelns sowie zur unbedingten Wahrung des religiösen Friedens. Im Text stand hierzu Folgendes: »Weil in unserem Gemeinwesen große Uneinigkeit in Sachen der christlichen Religion herrscht, und wir dem vorausgreifend erwirken wollen, dass aus diesem Grunde unter den Menschen kein schädlicher Aufruhr entstünde, den wir in anderen Königreichen klar sehen, so versprechen wir bei unserer Treue, Ehre und Gewissen für uns und unsere Nachfolger auf Dauer und an Eides statt, dass wir, die wir uneins in der Religion sind, Frieden unter uns wahren werden. Wir werden aufgrund unterschiedlichen Glaubens und Veränderungen in den Kirchen kein Blut vergießen und uns weder mit Konfiskation der Güter und Würden noch mit Kerker und Exil bestrafen, wozu wir auch keinem Amt zu solchem Vorgehen in irgendeiner Weise behilflich sein wollen. Und wenn jemand Blut zu vergießen gedächte, werden wir alle aus dem gerechten Grunde verpflichtet sein, dem zu wehren, selbst wenn dies jemand unter dem Vorwand eines Dekrets oder Gerichtsbeschlusses tun wollte.«[13] Ähnlich wie das Wilnaer bzw. Grodnoer Privileg, sicherte die Warschauer Konföderation die Freiheiten des Adels bei der Ausübung der jeweils gewählten Konfession. Für die nicht-katholischen Kirchen bedeutete dies nichts anderes, als dass sie sich nun unter der Obhut der Adligen frei entfalten konnten, aber auch zugleich, dass sie auf diese gänzlich angewiesen blieben. Die Warschauer Konföderation war nur auf das politische Volk, d.h. auf den Adelsstand, anwendbar.[14]

In der Praxis wirkten sich das Wilnaer bzw. Grodnoer Privileg und die Warschauer Konföderation ambivalent aus. Zum einen etablierten sie die Multikonfessionalität in Polen-Litauen für die nächsten knapp hundert Jahre in jener pluriformen Gestalt, die im europäischen Vergleich außergewöhnlich war. In dem polnisch-litauischen Doppelreich konnten selbst die in Mittel- und Westeuropa unerbittlich verfolgten Antitrinitarier und die aus ihnen hervorgegangenen Sozinianer institutionelle Strukturen aufbauen, sofern sie über die Anhänger unter dem Adel verfügten. Zum anderen ermöglichten die Rechtsdokumente – zumindest im Ansatz – das Prinzip cuius regio eius religio, das in seiner konkreten Durchführung mitunter das Gegenteil von Toleranz bedeuten konnte. Von dem erwähnten litauischen Großkanzler Nikolaus Radziwiłł, einem der Initiatoren des Wilnaer Privilegs, ist etwa überliefert, dass er in seinen Jurisdiktionsgebieten zur Duldung nur der protestantisch orientierten Glaubensgemeinschaften tendierte. Anderthalb Monate vor der Verabschiedung des Wilnaer Privilegs, am 18. April 1563 berichtete der später als ein besonders konsequenter Antitrinitarier bekannt gewordene Szymon Budny (1530–1593) in einem Brief an den reformierten Zürcher Antistes Heinrich Bullinger (1504–1575), dass der litauische Großkanzler auf seinen Besitztümern römisch-katholische und griechisch-orthodoxe Kirchen habe schließen oder reinigen, d.h. im protestantischen Sinne umfunktionieren lassen.[15]

Nicht prinzipiell tolerant waren auch solche herausragenden Vertreter des Reformiertentums und entschiedenen Befürworter der Warschauer Konföderation wie der königliche Sekretär und Diplomat Andreas Volanus (ca. 1531–1610).[16] Aus seinem eigenen Zeugnis aus dem Jahr 1584 geht hervor, dass Volanus zwar einen älteren römisch-katholischen Priester auf einem seiner Güter aus sozialen Gründen eine Zeit lang dulden konnte: Er habe den Mann mit Rücksicht auf sein fortgeschrittenes Alter weder des Amtes enthoben noch der Lebensgrundlage beraubt. Eine dauerhafte Aufrechterhaltung des römisch-katholischen Gottesdienstes bedeutete dies gleichwohl nicht. Nachdem der alte Priester gestorben war, besetzte Volanus die Stelle mit einem anderen Kandidaten, der die »reine Lehre« (= reformierte Lehre) vertreten habe und vorbildlich in der Lebensführung gewesen sei.[17]


III. Sozinianische Begründung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Dissenters mit dem pluralistischen Christentumsverständnis und die Anfänge des modernen Toleranzgedankens

Es wurde bereits erwähnt, dass die Warschauer Konföderation einen wichtigen rechtlichen Rahmen bildete, der den Bestand der antitrinitarischen resp. sozinianischen Institutionen in Polen-Litauen gewährleistete. Die Antitrinitarier selbst waren sich dieser Tatsache sehr wohl bewusst, und insbesondere in den Kontroversen mit den Vertretern des römischen Katholizismus kämpften sie stets für die Aufrechterhaltung der Schutzbestimmungen der Konföderation, die in ihrem Fall keineswegs unumstritten waren. Von den übrigen Protestanten wegen ihrer Ablehnung der traditionellen Trinitätslehre und Gottheit Christi als Häretiker angesehen und in den Streitschriften als solche gebrandmarkt,[18] wurden die Antitrinitarier früh zur Zielscheibe der römisch-katholischen Polemiken, die ihnen das Bleiberecht in Polen-Litauen absprachen: Hieronymus Powodowski (1543–1613) etwa, ein rechtlich gebildeter Prediger des polnischen Königs Stephan Báthory (1533–1586, reg. 1576–1586) und Krakauer Erzpriester, legte bereits in seiner 1582 erschienenen Publikation Wędzidła na błędy y bluznierstwa nowoaryanskie[19] dem Monarchen eine Ausweisung der Antitrinitarier nahe.[20]

In der Regierungszeit des prokatholisch gesinnten Sigismund III. Wasa verstärkten sich die Bemühungen der Vertreter des post-tridentinischen Katholizismus, die antitrinitarisch gesinnten Dissenters, die seit dem letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts in theologischen Belangen das sozinianische Profil trugen, in politisch-rechtliche Bedrängnis zu bringen. In den 1590er Jahren tat sich in dieser Hinsicht Powodowski wieder hervor. 1594 verwies er in seiner antisozinianischen Schrift Werifikacia disputaciey wtorey Smigelskiey[21] darauf, dass das alte Christentum genauso wenig wie das von ihm beeinflusste, von den entsprechenden Edikten der weltlichen Herrscher »gefüllte« römische Recht, das Corpus iuris civilis, die Leugnung der Trinitätslehre geduldet habe: Zwar habe man in Polen ein eigenes Recht; weil aber dieses dem Corpus iuris civilis entlehnt worden sei, sollte man sich dessen trinitarische Restriktionen aneignen und sie wie die anderen christlichen Länder – gleichgültig ob römisch-katholischen oder protestantischen Glaubens – umsetzen.[22]

Nach Powodoski mussten daher auch die trinitätsgläubigen polnisch-litauischen Protestanten ihre theologischen Abgrenzungen von den sozinianischen Antitrinitariern ernst nehmen und helfen, die letztgenannten von den politischen Schutzbestimmungen der Warschauer Konföderation auszuschließen. Nur so könne das im August 1564 von Sigismund II. August erlassene (von den anschließenden Reichstagen aber nie bestätigte) Parczówer Edikt gegen die Antitrinitarier inklusive ihrer Exilierung endlich exekutiert werden.[23] 1595 wiederholte der Erzpriester in seiner an den in Krakau tagenden Reichstag gerichteten Programmschrift Proposicia die Forderung nach der Umsetzung des Edikts, wobei er auch die Vaterlandstreue der Sozinianer anzweifelte.[24] Nach der Jahrhundertwende folgten Powodowski die Jesuiten mit ähnlichen Programmschriften, von denen die 1604 erschienene Polemik Zawstydzenie arianow[25] von Petrus Skarga (1536–1612), dem Hofprediger Sigismund III. Wasas, und die 1612 gedruckte, über die Grenzen Polen-Litauens bekannt gewordene Schrift Nova monstra novi Arianismi[26] von Martin Śmiglecki (1563–1618), einem führenden römisch-katholischen Intellektuellen, exemplarisch angeführt seien.

In der Auseinandersetzung mit den erwähnten Schriften legte der Sozinianer Hieronymus Moskorzowski (ca. 1560–1625), der seinerseits ein theologisch hoch gebildeter Adliger und mehrfacher Reichstagsteilnehmer war, die argumentativen Weichen für die Begründung der gesellschaftlichen Akzeptanz der Andersgläubigen mit dem pluralistischen Christentumsverständnis. In seiner 1595 publizierten, an den polnischen König und die Senatoren gerichteten Oratio qua continetur brevis calumniarum depulsio[27] ging Moskorzowski gegen den Versuch Powodowskis vor, den Sozinianern das Etikett der Vaterlandsverräter zu verpassen, indem er ihre Vaterlandsliebe und ihr politisches Pflichtbewusstsein betonte. Den für die erstrebte Exilierung benötigten Konsens zwischen den Anhängern der alten Kirche und den trinitätsgläubigen Protestanten torpedierte Moskorzowski mittels der Beschwörung des konfessionsübergreifenden, gemeinprotestantischen Bewusstseins: Seit den Anfängen der Reformation in Deutschland habe »unser schärfster Feind«, der Papst, nichts unversucht gelassen, um das Licht des Evangeliums auszulöschen; selbst vor einem Bürgerkrieg schreckten er und seine Satelliten nicht zurück, die den Garanten des Friedens, die Warschauer Konföderation, in Gefahr brächten.[28]

Die Warschauer Konföderation galt es nun mit gemeinsamen Kräften und ohne Rücksicht auf die konfessionellen Differenzen zu verteidigen, die Moskorzowski nach der Jahrhundertwende denn auch explizit relativierte. In der 1606 fertiggestellten, aber erst 1607 gedruckten Auseinandersetzung mit Petrus Skarga, der Zniesienie zawstydzenia,[29] plädierte er für ein weitherziges Verständnis vom Christentum im Sinne einer den konfessionellen Ausschließlichkeitsanspruch nicht mehr zulassenden, prinzipiell pluralistischen Religion. Moskorzowski differenzierte nämlich zwischen der Religion und dem jeweils unterschiedlichen Verständnis davon, wobei er allen Konfessionen zugestand, dass sie nach der Aufrichtung des Reiches Christi strebten. Die gegenseitige Toleranz erschien angesichts dieses Befunds als die einzig vernünftige Option.[30]

Die von Moskorzowski eingeschlagene Argumentationslinie, die auf den modernen Toleranzgedanken hinauslief, wurde von den anderen Vertretern des Sozinianismus beherzigt und weiter ausgebaut. Ihre klassische Ausformulierung fand sie in dem Traktat des mit dem polnischen Adligen eng befreundeten Johannes Crell, den Vindiciae pro religionis libertate. Verfasst vor dem Jahr 1633, beinhaltete dieses Plädoyer Crells für Religionsfreiheit eine in sich geschlossene, vielschichtige Konzeption der Toleranz: Nebst der obligatorischen Beschwörung der Einhaltung der Warschauer Konföderation, brachte es eine Reihe Argumente politisch-rechtlicher und theologischer Natur für die prinzipielle Akzeptanz der Andersgläubigen. Politisch-rechtlich waren nach Crell die von den Römisch-Katholischen als Häretiker kriminalisierten Andersgläubigen zu dulden, weil bei der sog. Häresie die Hauptmerkmale eines Verbrechens fehlten – das Bewusstsein, ein Verbrechen zu begehen, und der Verstoß gegen die Zivilgesetze. Theologisch wurde die Toleranz mit der geschichtlichen Entwicklung der religiös-sittlichen Normen und ihrer stets in Wandlung begriffenen gesellschaftlichen Akzeptanz begründet: Die strengen alttestamentlichen Vorgaben gegen die Apostaten seien im Neuen Testament abgeschafft worden, und die im Laufe der Zeit wechselnden Mehrheiten für bestimmte theologische Ansichten würden ein behutsames Umgehen mit »wahr« und »falsch« nahelegen – die Trennung des Unkrauts vom Weizen stehe nur Gott und nicht dem Menschen zu. Außerdem verwies Crell auf die nachteiligen Auswirkungen der religiösen Repressalien, welche die Andersgläubigen bestenfalls zur Dissimulation ihrer wahren Ansichten, d.h. Heuchelei, und schlimmstenfalls zum Atheismus verleiten würden.[31]

Dem Traktat Johannes Crells wurde weniger in Polen-Litauen, wohl aber im europäischen Ausland Aufmerksamkeit zuteil. 1637 und 1650 in den Niederlanden (vermutlich in Amsterdam) in Originalfassung gedruckt, wurde er 1646 ins Englische und 1649 ins Niederländische übersetzt. 1687 erschien der Traktat in französischer Fassung des Frühaufklärers Charles Le Cène (1647?–1703), die 1769 von Jacques André Naigeon (1738–1810), dem Mitarbeiter und Freund des Aufklärers Denis Diderot (1713–1784), neu herausgebracht wurde.[32] Diese Verbreitung der Vindiciae pro religionis libertate unter den aufklärerisch eingestellten Personen belegt unzweideutig, dass das in Polen-Litauen von den Sozinianern entwickelte Modell des Umgangs mit konfessionellen Differenzen in die Toleranzdebatte der Aufklärungsepoche mündete. Damit bildete es einen nicht unbedeutenden Strang in der Genese des europäischen Bewusstseins, dass die theologische resp. konfessionelle Differenz relativierend zu betrachten sei und nicht mit repressiven Mitteln angegangen werden könne. Den Sozinianern selbst nutzte freilich ihr in die Zukunft weisendes Toleranzmodell wenig. Die politisch-rechtlichen Entwicklungen in Polen-Litauen liefen in die genau entgegengesetzte Richtung: Mit der per Reichstagsbeschluss 1638 angeordneten Schließung von Rakówer Gymnasium und Druckerei setzte der Niedergang des sozinianischen Antitrinitarimus ein, an dessen Ende die 1658 verhängte Ausweisung der Sozinianer aus Polen-Litauen stand.


Anmerkungen

  1. Janusz TAZBIR, A State without Stakes. Polish Religious Toleration in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, New York 1973; ders., Geschichte der polnischen Toleranz, Warschau 1977; ders., Reformacja – kontrreformacja – tolerancja, Breslau 1996; Stanisław SALMONOWICZ, Geneza i treść uchwał konfederacji warszawskiej, in: Odrodzenje i Reformacja w Polsce 19 (1974), S. 7–30; ders., Konfederacja Warszawska 1573, Warschau 1985; Tadeusz WASILEWSKI, Tolerancja religijna w Wielkim Księstwie Litewskim w XVI-XVII w., in: Odrodzenje i Reformacja w Polsce 19 (1974), S. 117–128; Zbigniew OGONOWSKI, Z zagadnień tolerancji w Polsce XVII wieku, Warschau 1958; ders., Der Sozinianismus und das Problem der Toleranz, in: Lech SZCZUCKI (Hg.), Faustus Socinus and His Heritage, Krakau 2005, S. 129–145.
  2. Vgl. Piotr WILCZEK, Polonice et Latine. Studia o literaturze staropolskiej, Kattowitz 2007, bes. S. 78.
  3. Vgl. Christian PREUSSE, Die Warschauer Konföderation von 1573 und die Ausdifferenzierung von Politik und Religion im frühneuzeitlichen Europa, in: Themenportal Europäische Geschichte (2011), URL: http://www.europa.clio-online.de/2011/Article=505 [28.02.2016].
  4. Vgl. zur Kritik an dem älteren Toleranzparadigma auch: Tomasz KEMPA, Die Warschauer Konföderation von 1573, in: Joachim BAHLCKE u.a. (Hg.), Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, Berlin 2013, S. 883–896; Maciej PTASZYŃSKI, Religiöse Toleranz oder politischer Frieden? Verhandlungen über den Religionsfrieden in Polen-Litauen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Johannes PAULMANN u.a. (Hg.), Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit, Göttingen 2016, S. 161–178.
  5. Im Deutschen gibt es hierfür kein genaues Analogon. Am nächsten käme Kleinadel dem Ausdruck.
  6. Vgl. Monumenta Reformationis Polonicæ et Lithuanicæ. Zbiór pomników reformacyi kościoła polskiego i litewskiego. Zabytki z wieku XVIgo, Wilna 1911, Nr. 4, S. 13 und 17; Nr. 5, S. 23; Kęstutis DAUGIRDAS, Andreas Volanus und die Reformation im Großfürstentum Litauen, Mainz 2008, S. 52.
  7. Dem Privileg stimmten auch drei römisch-katholische Bischöfe zu – der von Wilna, Valerian Protasewicz (gest. 1579), der von Łuck und Brześć, Janusz Andruszewicz (gest. vor 1569) und der mit der Reformation sympathisierende Bischof von Kiev, Nikolaus Pac (gest. 1585), – sowie der griechisch-orthodoxe Wojewode von Kiev, Konstantin Ostrogski (gest. 1608). Vgl. Monumenta, Nr. 4, S. 17f; DAUGIRDAS, Andreas Volanus, S. 52f.
  8. Die Verabschiedung des Privilegs wurde deshalb von seinen Herausgebern als Ausdruck der religiösen Toleranz in Polen im Allgemeinen und der toleranten Haltung des katholischen Klerus im Großfürstentum im Besonderen bezeichnet. Vgl. Monumenta, S. 14 und 13, Anm. 1. Sie nannten es »Magna charta libertatum der dissidentischen litauischen szlachta«, in: ebd., S. 12.
  9. Vgl. WASILWESKI, Tolerancja religijna, S. 117.
  10. Vgl. zum wörtlich übernommenen Text der Warschauer Konföderation im Teil III.3 des Dritten Litauischen Statuts: Ivan LAPPO, 1588 metų Lietuvos statutas. Bd. II: Tekstas / Litovskij statut 1588 goda. Bd. II: Tekst, Kaunas 1938, S. 119–122.
  11. Vgl. KEMPA, Die Warschauer Konföderation von 1573, S. 885.
  12. Vgl. Urszula AUGUSTYNIAK, Historia Polski 1572–1795, Warschau 2008, S. 521–547.
  13. Vgl. zu der zeitgenössischen deutschen Übersetzung des Textes: Die Warschauer Konföderation 1573, in: Themenportal Europäische Geschichte (2011), URL: http://www.europa.clio-online.de/2011/Article=506. [27.2.2016].
  14. Vgl. KEMPA, Die Warschauer Konföderation von 1573, S. 887.
  15. Szymon Budny an Heinrich Bullinger, 18. April 1563, in: Theodor WOTSCHKE, Der Briefwechsel der Schweizer mit den Polen, Leipzig 1908, Nr. 273, S. 173f.
  16. Etwas anders urteilt Mirosław KOROLKO, Spory i polemiki wokół konfederacji warszawskiej w latach 1576–1609, in: Odrodzenje i Reformacja w Polsce 19 (1974), S. 86.
  17. Vgl. Andreas VOLANUS, Libri quinque, Wilna 1584, S. 205.
  18. In dem 1570 unterzeichneten Consensus Sendomirensis grenzten sich die Reformierten, Lutheraner und böhmischen Brüder von den Antitrinitariern aller Couleurs ab. Vgl. Henning P. JÜRGENS / Kęstutis DAUGIRDAS, Konsens von Sandomierz, in: Andreas MÜHLING / Peter OPITZ (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften. Bd. 3/1: 1570–1599, Neukirchen-Vluyn 2012, S. 17, Z. 8–12. Vgl. zur polemischen Abgrenzung der Reformierten von den Antitrinitariern, die jenen als »schlimmere Feinde Christi« galten als die »Papisten«: DAUGIRDAS, Andreas Volanus, bes. S. 139.
  19. Dt.: Kandare für die Irrtümer und Lästerungen der Neuarianer.
  20. Vgl. KOROLKO, Spory i polemiki, S. 84.
  21. Dt.: Überprüfung der zweiten Disputation in Śmigiel.
  22. Vgl. Hieronymus POWODOWSKI, Werifikacia disputaciey wtorey Smigelskiey, Posen 1594, fol. a4r.
  23. Vgl. ebd., fol. a4r–v. Das von Powodowski erwähnte Edikt wurde am 7. August 1564 verabschiedet und befahl allen ausländischen »Häretikern« das Land zu verlassen. Am 2. November 1564 wurde seine Geltung auf die Antitrinitarier beschränkt. Vgl. Maria SIPAYŁŁO, Akta synodów różnowierczych w Polsce. Bd. 2 (1560–1570), Warschau 1972, S. 175, Anm. 2 und 3. Vgl. zu den komplizierten Verhandlungen der Antitrinitarierfrage auf dem anschließenden Lubliner Reichstag (1566), der keinen neuen Beschluss zu verabschieden vermochte: Stanisław BONIAK, Sprawa wygnania arjan w. 1566, in: Reformacja w Polsce 5/19 (1928), S. 52–59, bes. S. 58f.
  24. Vgl. Hieronymus POWODOWSKI, Proposicia z wyrokow pismá S. zebrána: Ná Seym Wálny Koronny Krákowski w Roku 1595, Krakau 1595, S. 36f.
  25. Dt.: Beschämung der Arianer.
  26. Dt.: Neue Monster des neuen Arianismus.
  27. Dt.: Eine Rede, die eine kurze Zurückweisung der Verleumdungen enthält.
  28. Vgl. [Hieronymus MOSKORZOWSKI,] Oratio qua continetur brevis calumniarum depulsio, s.l. 1595, fol. B1r–B3v, bes. fol. B3v; fol. A2v–A3v, bes. fol. A2v; fol. C3r–C4v.
  29. Dt.: Aufhebung der Beschämung.
  30. Vgl. Hieronymus MOSKORZOWSKI, Zniesienie zawstydzenia, Raków 1607, S. 41.
  31. Vgl. [Johannes CRELL,] Vindiciae pro religionis libertate, Eleutheropoli [= Amsterdam] 1650, S. 3–5, 12f, 25f, 46–48, 55f, 66–68. Vgl. ausführlicher zu Crells Toleranzkonzeption: Sascha SALATOWSKY, Die drohende Gefahr des Atheismus. Die Sozinianer Przypkowski und Crell über die möglichen Folgen von Intoleranz, in: ders. / Winfried SCHRÖDER (Hg.), Duldung religiöser Vielfalt – Sorge um die wahre Religion. Toleranzdebatten in der Frühen Neuzeit, Berlin 2016, S. 99–127.
  32. Vgl. zu diesen Ausgaben und ihren Titeln: Piet VISSER (Hg.), Bibliographia Sociniana. A Bibliographical Reference Tool for the Study of Dutch Socinianism and Antitrinitarianism, Hilversum u.a. 2004, S. 81f. Der dort nicht erfasste Titel der englischen Übersetzung lautete A learned and exceeding well-compiled vindication of liberty of religion: written by Junius Brutus in Latine, and translated into English by N.Y. who desires, as much as in him is, to do good unto all men.