Johannes Crell, Vindiciae pro religionis libertate (1650)

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Zur Genese des modernen Toleranzgedankens: Das sozinianische Plädoyer für Religionsfreiheit

Quellentext

[S. 3f:] Die Schriften der Kirchenlehrer und die Praxis lehren, dass die [römisch-]katholische Konfession es erlaubt, den Häretikern die Religionsfreiheit zuzugestehen und für ihre Sicherheit dauerhaft und ohne Einschränkungen zu sorgen, wenn sie nicht ohne Schaden der Kirche entfernt werden können. Hieraus folgt, dass dieselbe Konfession es erlauben sollte, die den Häretikern einmal zugestandene Religionsfreiheit auch dann nicht zu entziehen, wenn sie ohne Schaden der Kirche entfernt oder unterdrückt werden können. Und in der Tat: Wenn die [Römisch-]Katholischen den Häretikern zusichern, dass sie sie weder unterdrücken noch wegen der Religion belangen werden, geben sie ihnen das Versprechen, sie vor allem dann mit keinen Unannehmlichkeiten zu belasten, wenn sie es können. Denn warum sonst hätten sie versprochen, dass sie das nicht tun werden, was sie gar nicht oder nicht ohne sich selbst zu schaden tun können? Wenn also die Vertragstreue es verlangt, dass das Zugesagte in die Tat umgesetzt wird, ist es notwendig, dass die [Römisch-]Katholischen, so sie denn das Verbrechen der Treulosigkeit vermeiden wollen, auch dann die Häretiker ertragen, wenn sie sie ohne eigenen Nachteil unterdrücken können. Und wenn das Gewissen ihnen erlaubt, den Häretikern die Religionsfreiheit ohne jegliche zeitliche Beschränkung bzw. explizit für immer zuzusichern,[1] wird das Gewissen ihnen auch erlauben, ja von ihnen verlangen, dass sie diese Freiheit den Häretikern dauerhaft unversehrt erhalten, selbst wenn sie sie problemlos unterdrücken können.


[S. 12f:] Ganz besonders ungerecht aber ist es, wenn man Leute, die nicht wissen, dass sie Häretiker sind – und es nicht wären, wenn sie es wüssten –, sondern im festen Glauben stehen, in ihrer Religion wahren, frommen und mit Gottes Wort völlig übereinstimmenden Lehren nachzufolgen, die niemandem ein Unrecht antun oder dies auch nur im Sinne haben, - wenn man solche Leute mit Dieben und Räubern gleichsetzt oder sogar für noch schlimmer hält und zu jenen zählt, mit denen keine vertrauensvolle Gemeinschaft möglich ist. Die Räuber wissen nämlich, dass sie sich des Fremden bemächtigen und dass sie gegen das in die Herzen aller Menschen eingeprägte Naturgesetz sündigen. Sie wissen, dass sie Böses tun und dass sie – was hier besonders wichtig ist – den Frieden und die Ruhe der anderen erschüttern, verletzen, zerstören. Sobald sie sich gegen die Zivilgesetze vergehen, müssen sie auch rechtens nach den Zivilgesetzen bestraft und als Störer des allgemeinen Friedens durch die Obrigkeit, die von Gott als Hüterin dieses Friedens und der Sicherheit eingesetzt ist, verurteilt werden. Ganz anders liegt jedoch die Sache bei den Häretikern, die mit ihren Mitmenschen im Frieden leben und diesen auch für die Zukunft zu erhalten wünschen, die nichts Böses tun und gegen die Zivilgesetze nicht verstoßen.


[S. 19–21:] Hier pflegen einige dieses Wort Pauli entgegenzuhalten: »Zieht nicht am fremden Joch mit den Ungläubigen. Denn was hat die Gerechtigkeit zu schaffen mit der Ungerechtigkeit? Was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis? Wie stimmt Christus überein mit Beliar? Oder was für ein Teil hat der Gläubige mit dem Ungläubigen? Was hat der Tempel Gottes gemein mit den Götzen?«[2] Aber hier ist die Rede nicht von dem zivilen Frieden oder von der zivilen Verbindung, welche die gesetzestreuen Glieder eines Gemeinwesens eint. Denn einen solchen Frieden hat der Heilige Paulus, haben alle Christen damals mit den Ungläubigen gepflegt, den Juden wie den Heiden, unter denen sie lebten. Ja, auch jener Apostel hat anderswo befohlen, dass die Christen, sofern es an ihnen liege, mit allen Menschen Frieden haben sollten.[3] Und er schrieb an die Korinther ausdrücklich: »Ich habe euch in dem Brief geschrieben, dass ihr nichts zu schaffen haben sollt [...] mit den Unzüchtigen. Damit meine ich nicht allgemein die Unzüchtigen in dieser Welt [...] oder die Geizigen oder Räuber oder Götzendiener; sonst müsstet ihr ja die Welt räumen.«[4] Wie hieraus erhellt, erlaubt er den Gläubigen explizit, mit den ungläubigen Menschen und Götzendienern verkehren, mit ihnen Geschäfte treiben und essen zu dürfen. Wird denn nun kein ziviler Frieden mit den Juden bewahrt? Werden denn ihnen keine Rechte zur Sicherheit gewährt? Werden denn keine Bundesschlüsse und anderweitige Verträge zwischen den christlichen Herrschern bzw. Gemeinweisen, ja selbst zwischen dem polnischen Königreich und den Mohammedanern geschlossen? Die Worte Pauli haben also nicht die zivile Gemeinschaft und Freundschaft oder ähnliche Verträge im Sinn, sondern eine andere, tiefere und innigere Verbindung, von der diejenigen absehen können, die in ziviler Hinsicht Freunde sind und den Frieden unter sich wahren, ja die sich bei jeglicher Gelegenheit gegenseitig mitmenschliche Dienste (humanitatis officia) erweisen.


[S. 25f:] Denn alle wissen, dass die zivilen Gesetze des Moses, denen auch jene zuzurechnen sind, die befahlen, den falschen Propheten oder den zum Götzendienst Abgefallenen zu töten,[5] ihre Bindung für die Christen verloren haben. Dass diese Gesetze [...] uns nicht mehr binden, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass das ganze Neue Testament weder solches gebietet noch andeutet, dass die Apostaten oder Häretiker von den Christen bestraft werden sollten.


[S. 28:] Viele wenden auch ein, dass die Häresien sich ausbreiten würden, wenn man den Häretikern die Freiheit ließe. Doch in Wirklichkeit verhält es sich eher umgekehrt: Die Häresien beginnen zu wachsen, wenn man sie mit Gewalt auszutilgen versucht. [...] Dies lehrt die Erfahrung der letzten Zeiten. In Frankreich, Belgien, England hat der evangelische Glaube erst dann begonnen sich auszubreiten, als die Verfolgungen gegen ihn einsetzten. Gleiches lehrt die Vernunft. Denn wenn jemand den andersartigen Glauben mit Gewalt zu unterdrücken trachtet, der macht seinen eigenen Glauben suspekt und entzieht ihm alle argumentative Kraft [...]. Der Griff nach den Mitteln der Gewalt signalisiert nämlich, dass man der eigenen Sache nicht traut und an den eigenen Sieg nicht glaubt, solange mit Argumenten gekämpft werde.


[S. 32:] Wenn du also mit fleischlichen Waffen die Häretiker von der Kirche fernhalten willst, wirst du die Feinde nicht besiegen, sondern nur anstacheln. Du wirst deren Zahl nicht verringern, sondern vergrößern. Und selbst wenn du mit diesen Mitteln sie schließlich auslöschen wirst, wirst du die Religion nicht verteidigt, sondern beschmutzt und verdorben haben. Richtig hat Laktanz einst den Heiden geantwortet, die glaubten, mit Gewalt den öffentlichen Kultus verteidigen zu müssen: »Wir müssen Religion verteidigen, indem wir selbst für sie sterben, aber nicht andere töten, nicht durch Grausamkeit, sondern nur durch Geduld.« Und ein wenig weiter: »Wenn du Religion durch Blut, Martern und Übel zu verteidigen glaubst, verteidigst du sie nicht mehr wahrhaft, sondern das befleckt und verletzt sie. Nichts ist freiwilliger als Religion.«[6] [...] Die christliche Religion besteht über weite Strecken darin, dass sie die Wahrhaftigkeit, Liebe, Frieden, Milde, Menschlichkeit (humanitas), Güte und Geduld einschärft.


[S. 46–48:] Also darf man niemanden zur christlichen Religion zwingen oder mit äußerer Gewalt treiben. Erstens deswegen nicht, weil das Wesen und die Natur der vollkommen geistigen Religion, wie die christliche es ist, dem Zwang widersprechen. [...] Ferner aus dem Grunde nicht, weil auf diese Art und Weise viele dazu gebracht werden, die Religiosität zu simulieren. Denn die Gewalt kann nicht bewirken, dass jemand anders denkt als er denkt. Eine Meinung kann dem Geist mit Gewalt weder eingeprägt noch abgerungen werden. Die Gewalt kann nur bewirken, dass jemand anders redet als er denkt und die Religion mit äußeren Worten bejaht, die er im Geiste missbilligt. Eine solche Simulation und Heuchelei ist aber in den Augen Gottes abscheulich, und sie soll es auch den Menschen sein: Sie ist schädlich für die Kirche und die Heuchler selbst. Der Kirche schadet sie, weil jene Heuchler ihre verborgenen Feinde sind, die sie gleichsam Schlangen in ihrem Schoße trägt. Sie können nicht anders, als die Kirche zu hassen, die sie glauben, sie zu Unrecht zu unterdrücken, und sie wünschen ihr Verderben, den sie herbei zu leiten suchen werden, sobald sie können. Den Heuchlern ist die Heuchelei schädlich, weil sie ihnen den ewigen Untergang bringt. Von jenem üblen Knecht spricht der Erlöser: »Der Herr wird ihm sein Teil geben bei den Heuchlern; da wird sein Heulen und Zähneklappern.«[7]


[S. 54] Wer aber die Häretiker bestraft oder tötet [...], der erfüllt weder die Pflicht der christlichen Milde noch erreicht er das Ziel, das da ist: die Irrenden auf den rechten Weg zurückzubringen, damit sie geheilt werden. Um alles mit einem Wort auszudrücken: Auf diese Art und Weise werden die Übleren geduldet und die Besseren hinweg geschafft. Die Besseren und Rechtschaffeneren sind nämlich diejenigen, die aus Rücksicht auf Gewissen und Gott dem Irrtum nicht abschwören wollen, solange sie davon nicht überzeugt sind.


[S. 57:] Wenn du aber einwendest, dass es dort keine Häresie mehr gebe, wo die spanische Inquisition stark sei, möchte ich dir zu bedenken geben, ob dort nicht vielmehr Atheismus an die Stelle der Häresie getreten sei? Darüber beklagen sich selbst einige [Römisch-]Katholische, die sich in jenen Regionen auskennen. Außerdem sind vor einigen Jahren in Spanien und Lusitanien etliche Tausende derjenigen entdeckt worden, die sich Illuminaten nannten [...] und die für Häretiker gehalten wurden. Meinst du nicht, dass es viele gibt, die insgeheim ähnlich denken? Die Erfahrung lehrt zur Genüge, dass die jüdische und sarazenische Religion aus den menschlichen Gemütern selbst Jahrhunderte nach der Einführung der Inquisition in Spanien und Lusitanien nicht herausgerissen werden konnte.


[S. 59:] Die Hoffnung auf den großen Nutzen, die aus der Duldung der Häretiker hervorgehen würde, sollte daher die [Römisch-]Katholischen zu milderen Maßnahmen animieren. Dank dieser Duldung (tolerantia) würden sie sich ein großes Lob für ihre Menschlichkeit (humanitas), Billigkeit, Milde und Mäßigung verdienen – und somit deren Gemüter gewinnen, die für die argumentative Wahrheit empfänglich gemacht werden würden.


[S. 66–68:] Weil es sich so verhält, ist für jedermann ersichtlich, dass die [Römisch-]Katholischen im Fall der Häretiker jenen Ratschlag Gamaliels befolgen sollten, mit dem er einst die jüdischen Ältesten ermahnte, den Aposteln keine Gewalt anzutun, wovon wir in der Apostelgeschichte nachlesen können. Er sprach nämlich seine Kollegen auf folgende Art und Weise an: »Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Ist dies Vorhaben oder dies Werk von Menschen, so wird’s untergehen; ist es aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten – damit ihr nicht dasteht als solche, die gegen Gott streiten wollen.«[8]

Befolgt werden muss auch jene Empfehlung des Paterfamilias, mit der er verbot, das Unkraut zu jäten, damit nicht zugleich auch der Weizen ausgerauft würde – man müsse es bis zur Ernte wachsen lassen.[9] Der Weizen darf sich keine Macht anmaßen, das Unkraut mit Gewalt auszuraufen. Denn auch das Unkraut, das sich für den Weizen hält, wird sich die Macht anmaßen, den Weizen auszuraufen, und weil in der Welt der Lasterhaftigkeit, im Gegensatz zum Acker der Tugend und Frömmigkeit, das Unkraut viel besser gedeiht als der Weizen, wird sich das Unkraut viel eher dieser Macht erfreuen als der Weizen. Wenn es welche gibt, die aufgrund der bloßen Menge und der durch den Lauf der vielen Jahrhunderten befestigten, allen Gegnern überlegenen Macht meinen, dass sie keine Angst davor haben sollten, von dem Unkraut mit Gewalt ausgerauft zu werden, dann müssen die, die solches denken, gerade deswegen sich selbst fragen, ob sie nicht inzwischen zu dem Unkraut zählen: Durch die Jahrhunderte hindurch haben sie den tugendarmen Acker überwuchert. Ja, sie müssen sich davor fürchten, dass sie von dem rechten Weg abgekommen sind, den zu finden nur wenigen beschieden ist. Denn so spricht der Erretter: »Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind‘s, die auf ihm hineingehen. Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind‘s, die ihn finden.«[10]

Außerdem zu bedenken sind die Unwägbarkeiten der menschlichen Geschicke. Wer weiß denn nicht, dass das Hohe oft in die Tiefe stürzt und das Niedrige erhöht wird, dass das Gültige und von den Jahrhunderten Bestätigte plötzlich an Kraft verliert? Und dies ist nicht verwunderlich, weil das, dessen Größe und Kraft wir nun bewundern, einst klein und unbedeutend war, ja, den bescheidenen Anfängen entsprossen, zu dieser Größe erst allmählich gelangt ist. Deswegen kann sich keiner, der das Unkraut mit Gewalt meint ausraufen zu müssen, des dauerhaften Triumphes sicher sein, sondern er muss vielmehr damit rechnen, dass er dereinst derselben Verfügungsgewalt unterliegen wird, die er sich selbst angemaßt hat. Somit ist nichts ratsamer als der Empfehlung des Paterfamilias zu folgen und die letzte Ernte abzuwarten, die fehlerlos und ohne dem Weizen zu schaden das Unkraut vom Weizen trennen und verbrennen wird.

Bibliographie

Johannes CRELL, Vindiciae pro religionis libertate, Eleutheropoli [= Amsterdam] 1650, S. 3f, 12f, 19–21, 25f, 28, 32, 46–48, 54, 57, 59, 66–68. Übersetzung: Kęstutis Daugirdas.

Anmerkungen

  1. Johannes Crell nimmt Bezug auf die Warschauer Koföderation von 1573.
  2. 2 Kor 6,14–16.
  3. Röm 12,18. Vgl. auch Hebr 12,14.
  4. 1 Kor 5,9f.
  5. Crell hat die klassischen alttestamentlichen Stellen, wie etwa Dtn 13, Lev 24,15f und Num 15,30, vor Augen, mit denen die Bestrafung der »Häretiker« in der Regel begründet wurde.
  6. LAKTANZ, Divinae institutiones V, 19, 22, in: CSEL 19, S. 465, Z. 14–16.17–20. Vgl. ausführlicher zur Argumentation des von Crell zitierten lateinischen Kirchenvaters Laktanz (ca. 250–nach 317): Maijastina KAHLOS, The Rhetoric of Tolerance and Intolerance. From Lactantius to Firminus Maternus, in: David BRAKKE u.a. (Hg.), Early Christianity in the Context of Antiquity. Bd. 5, Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 79–96, bes. S. 82f.
  7. Mt 24,51.
  8. Apg 5,38f.
  9. Vgl. Mt 13,29f.
  10. Mt 7,13f.