Nikolaus Gallus und Matthias Flacius Illyricus, Der Theologen Bedenken oder Beschluss des Landtages zu Leipzig 1548. Auszug aus der mit Kommentaren versehenen Leipziger Landtagsvorlage (Dezember 1548)

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Medienereignis und Bekenntnisbildung: Das Interim im Heiligen Römischen Reich

Einleitung

Die beiden wegen ihrer Gegnerschaft gegen das Augsburger Interim wie auch gegen die Leipziger Landtagsvorlage nach Magdeburg übergesiedelten Theologen Gallus und Flacius gaben den Landtagsentwurf und weitere einschlägige Texte im Jahr 1550 in den Druck, um die Öffentlichkeit über die zur Debatte stehenden Maßnahmen zur Umgestaltung des kirchlichen Lebens zu informieren und für die eigene, ablehnende Haltung zu gewinnen. Dabei fügten sie kommentierende Bemerkungen bei, die in der vorliegenden Ausgabe kursiv wiedergegeben sind. Die Markierungen, mit denen die Bezüge zwischen Haupttext und Anmerkungen hergestellt wurden, sind hier als eingeklammerte Großbuchstaben gestaltet.


Quellentext

[D 4r:] Text des Leiptzigschen Interims, im December des 48. Jars durch die Theologen der versamleten Landtschafft zu Leiptzig offentlich auffgedrungen.[1]


Unser Bedencken stehet darauff, das man der Römischen Key. May., unserm aller gnedigsten Herrn, gehorsam leiste (A) unnd sich also verhalte, das ihre May. unnd menniglich[2] unser aller gemüth zu ruhe, frieden und einigkeit geneigt vermercken müge. Das rathen wir treulich, wollen auch fur unser Person, so viel immer müglich, dazu dienen unnd vermanen. Denn (wie etliche von[3] uns one grundt reden und schreiben) ist unser gemüth und fürnehmen (B) zu keiner zweispalt odder weiterung,[4] sondern zu allem dem wie obgemeldet gerichtet. Das zeugen wir mit Gott selbst, dem aller Menschen hertzen bekandt.[5] Und solchs sol unnd wirdt das werck selbst außweisen.

(A) Damit man deste besser verstehe, worauff diese der Theologen antwort gehet, ist zu wissen, das man ihnen hat vorgehalten, Key. May. begere das Interim anzu-[D 4v:]nemen,[6] und sie gefraget, was sie dazu sagen oder rathen? Die Herrn Theologen antworten schlecht[7] (wie du liesest), ja, sie wollen Key. Ma. gehorsam sein, und rathen auch andern treulich dazu, und darumb wollen sie keine zwispalt mehr haben etc. Ist das nicht ein offentlich abfall und verleugkung unserer Religion, ja auch zum abfall unnd verleugkung andere Leute dazu vermanen unnd dringen?
(B) Nota: Bißher sind sie Schismatici[8] gewesen, nu wollen sie es nicht mehr thun.

Demselbigen nach bedencken wir: Erstlich, das alles, (C) was die alten Lehrer in den Adiaphoris, das ist inn Mitteldingen, die man one verletzung (D) Göttlicher schrifft halten mag, gehalten haben und bei dem andern teil[9] noch im brauch blieben ist, hinfort auch gehalten werde, (E) und das man darinne keine beschwerunge oder wegerunge suche oder fürwende, dieweil solchs one verletzung guter gewissen wol geschehen mag.

(C) Verstehe Scotum,[10] Thomam,[11] Lombar.[12] und andere Möniche. Denn S. Hieronymus[13] hat nicht gewust, das ein öberster Bischoff in der Kirchen sei, vide epist. ad Evagrium.[14] Item so hat man 850. Jar nach Christi geburt nichtes gewust von vij. Sacramenten, davon sie darnach handeln, wie zu vernemen aus Rabano Mauro, Ertzbischoff zu Mentz.[15]
(D) Als da ist das reine Confiteor, da man die heiligen anrufft.[16]
(E) Also wirdt die gantze Religion Christi verstalt[17] inn des Antichrists greuel, unnd das heist bekennen unnd nicht ergernis geben!

Bibliographie

Textvorlage: Irene DINGEL (Hg.), Der Adiaphoristische Streit (1548–1560), Göttingen 2012, S. 385–387.

Anmerkungen

  1. Aufgenötigt.
  2. Jedermann.
  3. Über.
  4. Verzögerung, Hindernisse, Schwierigkeiten, Verwicklungen.
  5. Vgl. Apg 15,8; I Sam 16,7.
  6. Begehre, dass man das Interim annehme.
  7. Schlicht, einfach.
  8. Schismatiker, Anhänger eines Schismas, d. h. einer Abspaltung von der Hauptkirche (ohne dass Irrlehren vertreten werden; sonst spräche man von Häresie).
  9. Der/das ander Teil = die Altgläubigen.
  10. Johannes Duns Scotus, genannt Doctor subtilis, franziskanischer Theologe, gestorben am 8. November 1308 in Köln.
  11. Thomas von Aquin, genannt Doctor angelicus, dominikanischer Theologe, Kirchenlehrer, gestorben am 7. März 1274 in der Zisterzienserabtei Fossanova (Latium), auf dem Weg zum II. Konzil von Lyon.
  12. Petrus Lombardus, genannt Magister Sententiarum, Urheber eines der einflussreichsten theologischen Lehrbücher des späten Mittelalters, gestorben im Juli 1160 in Paris.
  13. Sophronius Eusebius Hieronymus, Kirchenlehrer, Bibelübersetzer, gestorben um 420 in Bethlehem.
  14. Vgl. HIERONYMUS, Epistula CXLVI ad Evangelum [sic], in: PL 22, 1192–1195 (CSEL 56, 308,1–312,5). 1538 erschien eine Separatausgabe in Wittenberg: EPISTOLA || SANCTI HIERO||NYMI AD EVA=||GRIVM De PO=||TESTATE || PAPAE. Cum Praefatione D. Martini || Lutheri (VD 16 H 3507).
  15. Hrabanus Maurus, 822–842 Abt von Fulda und 847–856 Erzbischof von Mainz, spricht z. B. in seiner Schrift De institutione clericorum I,31 von vier Sakramenten: Taufe, Chrisma, Leib und Blut des Herrn. Vgl. PL 107, 331C (FChr 61/1, 212). Der Text des Hrabanus Maurus wurde nach unterschiedlichen Handschriften in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mehrfach gedruckt.
    Die Siebenzahl der Sakramente, die sich im Laufe des Mittelalters allmählich herausbildete, wurde 1274 durch das II. Konzil von Lyon bestätigt: Taufe, Firmung, Eucharistie, Beichte, Priesterweihe, Ehe, Krankensalbung. Die Kirchen der Reformation erkannten nur die Taufe und das Abendmahl als Sakramente an (zeitweilig auch die Beichte, weil auch sie auf eine Einsetzung Christi zurückgeht, doch fehlt hier ein sichtbares Zeichen bzw. ein mit dem Wort verbundenes Element, wie es das Wasser in der Taufe und Brot und Wein im Abendmahl darstellen).
  16. Als Confiteor wird nach seinem Anfangswort das Allgemeine Schuldbekenntnis bezeichnet, das als Teil des Stufengebets zu Beginn der Messe vom Priester gebetet wurde. Vor der Vereinheitlichung der Liturgie als Folge der Beschlüsse des Konzils von Trient (Tridentinum, 1545–1563) gab es vielerlei unterschiedliche Formen mit Anrufung unterschiedlicher Heiliger als Fürbitter.
  17. Entstellt, verunstaltet.