Papst Leo XIII., Inmitten der Besorgnisse (datiert Rom, den 16. Februar 1892)

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Religion und Politik in Frankreich: Von der Französischen Revolution bis zur Dritten Republik

Einleitung

Mit der Veröffentlichung seiner Enzyklika »Rerum Novarum« im Jahre 1891 bekam Papst Leo XIII. (reg. 1878–1903) den Spitznamen »Arbeiterpapst«. Doch der gebürtige Vincenzo Gioacchino Pecci war weit mehr als ein Kirchenvater, der die dunkle Seite des Kapitalismus verurteilte und der katholischen Soziallehre neue Impulse gab. Besonders bemüht war Leo XIII., die politische Isolierung der Kirche aufzuheben. In diesem Kontext veröffentlichte er 1892 die Enzyklika »Au Milieu des Sollicitudes« [Inmitten der Besorgnisse], in der der Papst die Katholiken Frankreichs zur Akzeptanz der republikanischen Staatsform aufrief.

Quellentext

Au Milieu des Sollicitudes [Inmitten der Besorgnisse]

Enzyklika

Unseres Heiligen Vaters Leo XIII.

An die Erzbischöfe, Bischöfe, an den Klerus und an alle Katholiken Frankreichs

Ehrwürdige Brüder, teuerste Söhne.

Wie sollten Wir nicht von lebhaftem Schmerz erfüllt sein, wenn Wir in der gegenwärtigen Stunde an die Tragweite der ausgedehnten Verschwörung denken, die gewisse Leute angezettelt haben, um das Christentum in Frankreich zu vernichten, und an die Feindseligkeit, mit der sie die Verwirklichung ihrer Pläne verfolgen, wobei sie die nach dem Gefühl der Mehrheit des Volkes elementarsten Begriffe von Freiheit, Gerechtigkeit und Achtung vor den unveräußerlichen Rechten der katholischen Kirche mit Füßen treten? Und wie sollen Wir der Bitterkeit, die Uns erfüllt, und den Sorgen, die auf Uns einstürmen, Ausdruck verleihen, wenn Wir die unheilvollen Folgen dieser sträflichen Angriffe, die zum Verderben der Sitten, der Religion und selbst der rechtverstandenen politischen Interessen führen, eine nach der andern sich manifestieren sehen?

Auf der anderen Seite fühlen Wir einen nicht geringen Trost, wenn Wir sehen, wie dieses gleiche Volk Liebe und Eifer für den HI. Stuhl im gleichen Maße verdoppelt, wie es ihn immer mehr verlassen und, müssten Wir sagen, immer mehr in aller Welt angefeindet sieht. Bewegt von einem tiefen religiösen und echt patriotischen Gefühl sind die Vertreter aller sozialen Schichten Frankreichs zu verschiedenen Malen zu Uns geeilt, glücklich, der Kirche in den drängenden Nöten beizustehen, zugleich im Verlangen, Uns um Aufklärung und Rat zu bitten, um sicher zu sein, dass sie sich inmitten der gegenwärtigen Heimsuchungen nicht um einen Schritt von den Weisungen des Oberhauptes der Gläubigen entfernen.

[…]

Auch heute halten Wir es für angebracht und sogar für notwendig, erneut Unsere Stimme zu erheben und noch eindringlicher nicht nur alle Katholiken, sondern, möchten Wir sagen, alle rechtlich und vernünftig denkenden Franzosen zu ermahnen, jeden Keim politischen Haders zu ersticken, um ihre Kräfte einzig für die Befriedung ihres Vaterlandes einzusetzen. Diese Befriedung – alle kennen ihren Preis, alle wünschen sie immer sehnlicher herbei. Und Wir ersehnen sie mehr als irgendjemand sonst, denn Wir vertreten auf Erden den »Gott des Friedens« daher laden Wir mit diesem Schreiben alle redlichen Seelen, alle großmütigen Herzen ein, Uns zu helfen, sie dauerhaft und wirksam zu machen.

[…]

Verschiedene politische Regierungen haben im Verlauf dieses Jahrhunderts in Frankreich einander abgelöst, und jede hatte ihre bestimmte Form: Kaiserreiche, Monarchien, Republiken. Wenn man im Abstrakten verbleibt, könnte man leicht definieren, welche, in sich betrachtet, die beste Form ist; man kann auch mit vollem Recht sagen, daß jede von ihnen gut sei, sofern sie nur fähig ist, geradlinig auf ihr Ziel zuzugehen, auf das Gemeinwohl nämlich, für das die gesellschaftliche Autorität eingesetzt worden ist; schließlich muß noch hinzugefügt werden, daß unter einem bestimmten Gesichtspunkt diese oder jene Regierungsform vorzuziehen sei, weil sie dem Charakter und den Sitten dieser oder jener bestimmten Nation besser angepaßt ist. In der Ordnung des theoretischen Denkens haben die Katholiken wie jeder andere Staatsbürger die volle Freiheit, die eine Regierungsform der andern vorzuziehen, ebendeshalb, weil keine der gesellschaftlichen Formen von sich aus den Regeln der gesunden Vernunft und den Maximen der christlichen Doktrin widerspricht. All dies genügt auch, um vollauf die Weisheit der Kirche zu rechtfertigen, wenn sie in ihren Beziehungen zu den politischen Gewalten von den sich unterscheidenden Formen absieht, um mit ihnen die großen religiösen Anliegen der Völker zu behandeln, aus dem Bewußtsein heraus, daß es ihre Pflicht ist, diese über alle anderen Interessen hinweg unter ihren Schutz zu nehmen.

[…]

Wenn folglich neue Regierungen, die diese unveränderliche Gewalt repräsentieren, sich gebildet haben, so ist ihre Annahme nicht nur erlaubt, sondern erfordert, nämlich geboten im Interesse des allgemeinen Wohls, das sie hervorgebracht hat und aufrecht erhält. Umso mehr, als die Rebellion den Haß unter den Bürgern schürt, Bürgerkriege provoziert und die ganze Nation in das Chaos der Anarchie stürzen kann. Und diese schwere Pflicht der Achtung und Unterwerfung bleibt bestehen, solange die Erfordernisse des Gemeinwohls es verlangen, denn dieses Gut ist in der Gesellschaft nach Gott das erste und letzte Gebot.

Das erklärt auch das kluge Vorgehen der Kirche, die die Beziehungen zu den zahlreichen Regierungen aufrecht erhalten hat, die in Frankreich in weniger als einem Jahrhundert einander abgelöst haben, und zwar in keinem Fall ohne heftige und tiefergreifende Erschütterungen hervorzurufen. Eine solche Haltung ist für alle Franzosen die sicherste und heilsamste Verhaltensweise in ihren staatsbürgerlichen Beziehungen zur Republik, die die gegenwärtige Staatsform der Nation ist. Fern seien von ihnen die politischen Zwistigkeiten, die sie trennen; alle ihre Anstrengungen müssen sich vereinigen, um die sittliche Größe ihres Vaterlandes zu bewahren oder zu erneuern.

Aber da erhebt sich ein Einwand: »Diese Republik, bemerkt man, ist von derartig antichristlichen Gefühlen beseelt, daß alle rechtlich denkenden Menschen, und mehr noch die Katholiken, sie aus Gewissensgründen nicht annehmen können.« Das ist es vor allem, was zu den Meinungsverschiedenheiten Anlaß gegeben und sie noch vertieft hat. – Man hätte diese bedauerlichen Auseinandersetzungen vermeiden können, wenn man die wichtige Unterscheidung zwischen etablierter Gewalt und Gesetzgebung sorgfältig beachtet hätte. Die Gesetzgebung unterscheidet sich so weitgehend von den politischen Gewalten und ihrer Form, daß unter einer Regierung mit der besten Regierungsform die Gesetzgebung verwerflich sein kann, während andererseits unter einer Regierung mit der unvollkommensten Regierungsform eine ausgezeichnete Gesetzgebung bestehen kann. Es wäre ein leichtes, diese Wahrheit anhand der Geschichte zu beweisen; doch wozu? Alle sind davon überzeugt. Wer wüßte es besser als die Kirche, die sich immer bemüht hat, mit allen politischen Regimen normale Beziehungen zu unterhalten? Gewiß kann sie mehr als jede andere Macht sagen, wieviel Erleichterung und wieviel Leid ihr die Gesetze der verschiedenen Regierungen gebracht haben, die nacheinander vom Römischen Reich an bis in unsere Tage die Völker gelenkt haben.

Die von uns gemachte Unterscheidung ist nicht nur von höchster praktischer Bedeutung, sie ist auch innerlich und sachlich begründet: Die Gesetzgebung ist das Werk der Menschen, die die Gewalt besitzen und tatsächlich die Nation regieren. Darauf folgt, daß die Qualität der Gesetze praktisch mehr von der Qualität dieser Menschen abhängt als von der Regierungsform. Diese Gesetze werden gut oder schlecht sein, je nachdem, ob die Gesetzgeber von guten oder schlechten Prinzipien durchdrungen sind und je nachdem sie sich von politischer Klugheit oder von der Leidenschaft leiten lassen.

Daß in Frankreich seit mehreren Jahren die Gesetzgebung verschiedene wichtige Maßnahmen verfügt hat, die eingegeben sind von feindseligen Absichten gegen die Religion und folglich auch gegen die Interesse der Nation, ist allgemeine Überzeugung und wird leider durch die Evidenz der Tatsachen bestätigt. Wir selbst haben Uns, getreu Unserer heiligen Pflicht, mit lebhaften Klagen an das damalige Oberhaupt der Republik gewandt. Diese Bestrebungen blieben jedoch bestehen, das Übel verschlimmerte sich noch, und niemand kann sich wundern, daß die Glieder des französischen Episkopats, vom Heiligen Geist eingesetzt, ihre verschiedenen ehrwürdigen Kirchen zu leiten, es, wie noch vor kurzem, als ihre Pflicht erachtet haben, öffentlich ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen angesichts der Lage der katholischen Religion in Frankreich. Armes Frankreich! Gott allein kann den Abgrund des Unheils ermessen, in das es stürzen wird, wenn diese Gesetzgebung sich nicht bessert, sondern weiter auf fiesen Abwegen verharrt, die dahin führen werden, aus Geist und Herz der Franzosen die Religion auszurotten, die sie groß gemacht hat.

[…]

Bevor Wir unser Schreiben beschließen, wollen Wir noch zwei Punkte kurz berühren, die untereinander eng verbunden sind und, da sie eng mit den religiösen Interessen verknüpft sind, unter den Katholiken gewisse Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen haben. – Der eine betrifft das Konkordat. […] Der zweite Punkt [ist] das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, die einer Trennung der menschlichen von der christlichen und göttlichen Gesetzgebung gleichkommt. Wir wollen Uns hier nicht dabei aufhalten, die ganze Absurdität der These dieser Trennung zu beweisen; jeder wird sie von selbst erkennen. Sobald der Staat sich weigert, Gott zu geben, was Gottes ist, verweigert er mit folgerichtiger Notwendigkeit auch den Bürgern, worauf sie als Menschen ein Anrecht haben; denn, ob man will oder nicht, die wahren Menschenrechte entspringen gerade aus den Pflichten gegenüber Gott. Daraus folgt, daß der Staat, der in dieser Beziehung den wichtigsten Zweck seines Daseins verfehlt, in Wahrheit dahin gelangt, sich selbst aufzugeben und den Grund für seine eigene Existenz in Abrede zu stellen. Diese erstrangigen Wahrheiten sind durch die Stimme der natürlichen Vernunft selbst so klar ausgesprochen, daß sie sich jedem Menschen aufdrängen, der nicht durch stürmische Leidenschaften verblendet ist. Deshalb sollten die Katholiken sich hüten, diese Trennung zu unterstützen.

Bibliographie

Leo XIII., Au Milieu des Sollicitudes [Inmitten der Besorgnisse], in: Arthur UTZ / Brigitta Gräfin von GALEN (Hg.), Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Ein Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart, 4 Bde., Aachen 1976, Bd. 3, S. 2356–2379.

Für das französische Original: http://w2.vatican.va/content/leo-xiii/fr/encyclicals/documents/hf_l-xiii_enc_16021892_au-milieu-des-sollicitudes.html