Religion und Politik in Frankreich: Von der Französischen Revolution bis zur Dritten Republik: Unterschied zwischen den Versionen

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'''Eveline G. Bouwers'''
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{{Author|[http://www.ieg-mainz.de/institut/personen/bouwers Eveline G. Bouwers]}}
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== Einleitung ==
 
== Einleitung ==
  
In Frankreich sind politische und religiöse Streitigkeiten seit Jahrhunderten eng miteinander verflochten. Bereits in der Frühen Neuzeit kam es aufgrund dessen im Land des ‚allerchristlichsten Königs‘ vielfach zu Konflikten, Gewalt und Krieg. Während der Hugenottenkriege (1562-98) kämpften die katholischen Adligen gegen die Zentralisierungsbestrebungen der Könige, die von den etwa 10 Prozent französischen Protestanten unterstützt wurden. Beendet wurde dieser Streit durch das Edikt von Nantes (1598), das den Hugenotten zwar Gewissensfreiheit, freie Religionsausübung und Bürgerrechte zusicherte, doch durch die Erhebung des Katholizismus zur Staatsreligion die Position religiöser Minderheiten langfristig schwächte. Tatsächlich wurde die Sonderstellung der Hugenotten zunehmend als Widerspruch zum absolutistischen Staatsideal empfunden. 1685 wiederrief Ludwig XIV. (reg. 1643-1715) dann das Nanter Edikt.
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In Frankreich sind politische und religiöse Streitigkeiten seit Jahrhunderten eng miteinander verflochten. Bereits in der Frühen Neuzeit kam es aufgrund dessen im Land des »allerchristlichsten Königs« vielfach zu Konflikten, Gewalt und Krieg. Während der Hugenottenkriege (1562–1598) kämpften die katholischen Adligen gegen die Zentralisierungsbestrebungen der Könige, die von den etwa 10 Prozent französischen Protestanten unterstützt wurden. Beendet wurde dieser Streit durch das Edikt von Nantes (1598), das den Hugenotten zwar Gewissensfreiheit, freie Religionsausübung und Bürgerrechte zusicherte, doch durch die Erhebung des Katholizismus zur Staatsreligion die Position religiöser Minderheiten langfristig schwächte. Tatsächlich wurde die Sonderstellung der Hugenotten zunehmend als Widerspruch zum absolutistischen Staatsideal empfunden. 1685 wiederrief Ludwig XIV. (reg. 1643–1715) dann das Nanter Edikt.
  
Seit dem 14. Jahrhundert hatten die Könige eine gewisse Autonomie der französischen Kirche vom Heiligen Stuhl angestrebt. Der Versuch die weltliche Macht der nationalen Bischöfe gegenüber jener des Papstes zu stärken wurde später als Gallikanismus (von ''Gallia'', d.h. Frankreich) bezeichnet und von Ludwig XIV. zur Staatsraison erhoben. Wie auch der Absolutismus, geriet der Gallikanismus während der Aufklärung in die Kritik. Statt nach Tradition strebten die ''philosophes''<ref>Französische Denker der Aufklärung werden auch als ''philosophes'' bezeichnet.
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Seit dem 14. Jahrhundert hatten die Könige eine gewisse Autonomie der französischen Kirche vom Heiligen Stuhl angestrebt. Der Versuch, die weltliche Macht der nationalen Bischöfe gegenüber jener des Papstes zu stärken, wurde später als Gallikanismus (von ''Gallia'', d.h. Frankreich) bezeichnet und von Ludwig XIV. zur Staatsraison erhoben. Wie auch der Absolutismus, geriet der Gallikanismus während der Aufklärung in die Kritik. Statt nach Tradition strebten die ''philosophes''<ref>Französische Denker der Aufklärung werden auch als ''philosophes'' bezeichnet.
</ref> nach Fortschritt und nach einer an der Vernunft orientierte Gesellschaftsgestaltung; die Hegemonie des Souveräns und der herrschenden Stände sollte durch das Gemeinwohl und die Einführung von Bürgerrechten ersetzt werden. An die Stelle des Aberglaubens traten Vernunft, Wissenschaft und Toleranz. Leitspruch der kirchenkritischen Ansichten der Philosophen wurde das Diktum Voltaires: ‚Rottet den niederträchtigen [Aberglauben] aus!(''Écrasez l’infâme!'').
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</ref> nach Fortschritt und nach einer an der Vernunft orientierten Gesellschaftsgestaltung; die Hegemonie des Souveräns und der herrschenden Stände sollte durch das Gemeinwohl und die Einführung von Bürgerrechten ersetzt werden. An die Stelle des Aberglaubens traten Vernunft, Wissenschaft und Toleranz. Leitspruch der kirchenkritischen Ansichten der Philosophen wurde das Diktum Voltaires: »Rottet den niederträchtigen [Aberglauben] aus!« (''Écrasez l’infâme!'').
  
Das frühneuzeitliche Bündnis von Thron und Altar gab der Kirche zwar Macht, doch gefährdete es zugleich ihre Position. Als Teil des monarchischen Machtgefüges strahlten die verlorenen Kriege, den drohenden Staatsbankrott und der soziale Unmut des 18. Jahrhunderts auf sie aus. Dass neben dem Adel auch der höhere Klerus den Verzicht auf Privilegien verweigerte, sorgte für Unzufriedenheit. Dennoch richteten sich die Proteste vom Sommer 1789 keineswegs gegen all das, was kirchlich und religiös war; vielmehr schloss der niedrige Klerus sich teilweise dem Dritten Stand (d.h. allen, die weder zum Adel noch zum Klerus gehörten) an. Dennoch geriet die andauernde kirchliche Unterstützung für die Monarchie ins Visier der Revolutionäre. Nachdem der Besitz der Kirche im November konfisziert und die Klosterorden im Februar 1790 aufgehoben worden waren, verabschiedete die Verfassungsgebende Nationalversammlung im Juli des gleichen Jahres die Zivilkonstitution des Klerus, welche die Kirche unter staatliche Aufsicht stellte. Von den Priestern, nun Beamten, wurde ein Eidesschwur auf die Verfassung verlangt, den ihnen Papst Pius VI. (reg. 1775-99) aber untersagte. So entstanden ein verfassungstreuer und ein romtreuer Klerus, der gefangengenommen wurde oder emigrierte.
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Das frühneuzeitliche Bündnis von Thron und Altar gab der Kirche zwar Macht, doch gefährdete es zugleich ihre Position. Als Teil des monarchischen Machtgefüges strahlten die verlorenen Kriege, der drohende Staatsbankrott und der soziale Unmut des 18. Jahrhunderts auf sie aus. Dass neben dem Adel auch der höhere Klerus den Verzicht auf Privilegien verweigerte, sorgte für Unzufriedenheit. Dennoch richteten sich die Proteste vom Sommer 1789 keineswegs gegen all das, was kirchlich und religiös war; vielmehr schloss der niedrige Klerus sich teilweise dem Dritten Stand (d.h. allen, die weder zum Adel noch zum Klerus gehörten) an. Trotzdem geriet die andauernde kirchliche Unterstützung für die Monarchie ins Visier der Revolutionäre. Nachdem der Besitz der Kirche im November konfisziert und die Klosterorden im Februar 1790 aufgehoben worden waren, verabschiedete die Verfassungsgebende Nationalversammlung im Juli des gleichen Jahres die Zivilkonstitution des Klerus, welche die Kirche unter staatliche Aufsicht stellte. Von den Priestern, nun Beamten, wurde ein Eidesschwur auf die Verfassung verlangt, den ihnen Papst Pius VI. (reg. 1775–1799) aber untersagte. So entstanden ein verfassungstreuer und ein romtreuer Klerus, der gefangengenommen wurde oder emigrierte.
  
Je antiklerikaler sich die am 21. September 1792 gegründete Republik<ref>Die Republik wurde nie offiziell ausgerufen, doch gilt die Abschaffung der Monarchie am 22. September 1792 als ‚Stunde Null‘. An dem Tag begann auch der erste Tag des revolutionären Kalenders (1. Vendémiaire, Jahr I.).
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Je antiklerikaler sich die am 21. September 1792 gegründete Republik<ref>Die Republik wurde nie offiziell ausgerufen, doch gilt die Abschaffung der Monarchie am 22. September 1792 als »Stunde Null«. An dem Tag begann auch der erste Tag des revolutionären Kalenders (1. Vendémiaire, Jahr I.).
</ref> entwickelte, desto größer wurde der Widerstand unter den Gläubigen. Nach der Ankündigung einer militärischen ''levée en masse''<ref>Die ‚levée en masse‘ wurde in Frankreich im August 1793 eingeführt. Sie legte eine Wehrpflicht für alle unverheirateten Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren fest.
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</ref> entwickelte, desto größer wurde der Widerstand unter den Gläubigen. Nach der Ankündigung einer militärischen ''levée en masse''<ref>Die »levée en masse« wurde in Frankreich im August 1793 eingeführt. Sie legte eine Wehrpflicht für alle unverheirateten Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren fest.
</ref> kam es im Westen Frankreichs zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der Republik einerseits – die zwar einen Bedarf an Religiosität erkannte, doch diesen u.a. durch den von Robespierre geförderten Kult des Höchsten Wesens zu befriedigen versuchte – und den Royalisten sowie praktizierenden Katholiken anderseits. Nach dem Fall Robespierres versuchte das politisch deutlich gemäßigtere Direktorium die antirepublikanische Gesinnung der Gläubigen zu überwinden, indem es am 21. Februar 1795 (3. Ventôse, Jahr III) das Dekret zur ‚Freiheit der Religion und Trennung der Kirchen und des Staates'''‘''' verabschiedete '''(Quelle 1)'''. Das Dekret regelte neben der religiösen Toleranz vor allem die staatliche Überwachung kirchlicher Organisationen und Akteure. Ihm war jedoch kein langes Leben beschert; bereits am 16. Juli 1801 (26. Messidor, Jahr IX) wurde es von einem Konkordat ersetzt, das den Katholizismus zur „Religion der großen Mehrheit der französischen Bürger“ machte und die staatliche Benennung und Besoldung des Klerus festsetzte.
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</ref> kam es im Westen Frankreichs zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der Republik einerseits – die zwar einen Bedarf an Religiosität erkannte, doch diesen u.a. durch den von Robespierre geförderten Kult des Höchsten Wesens zu befriedigen versuchte – und den Royalisten sowie praktizierenden Katholiken anderseits. Nach dem Fall Robespierres versuchte das politisch deutlich gemäßigtere Direktorium die antirepublikanische Gesinnung der Gläubigen zu überwinden, indem es am 21. Februar 1795 (3. Ventôse, Jahr III) das Dekret zur »Freiheit der Religion und Trennung der Kirchen und des Staates« verabschiedete ({{Source|Dekret vom 21. Februar 1795 (3. Ventôse, Jahr III) zur Freiheit der Religion und Trennung der Kirche und des Staates|Quelle 1}}). Das Dekret regelte neben der religiösen Toleranz vor allem die staatliche Überwachung kirchlicher Organisationen und Akteure. Ihm war jedoch kein langes Leben beschert; bereits am 16. Juli 1801 (26. Messidor, Jahr IX) wurde es von einem Konkordat ersetzt, das den Katholizismus zur »Religion der großen Mehrheit der französischen Bürger« machte und die staatliche Benennung und Besoldung des Klerus festsetzte.
  
Nach dem Fall Napoleons wurde am Wiener Kongress (1815) zwar die Restauration der Bourbonenmonarchie in Frankreich beschlossen, doch am Verhältnis von Kirche und Staat änderte sich zunächst wenig. Die Chartas<ref>Eine Charta ist eine Art Urkunde mit politischen Versprechen; Ludwig XVIII. legte den Franzosen noch vor der Restauration der Monarchie eine Charta vor.
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Nach dem Fall Napoleons wurde beim Wiener Kongress (1815) zwar die Restauration der Bourbonenmonarchie in Frankreich beschlossen, doch am Verhältnis von Kirche und Staat änderte sich zunächst wenig. Die Chartas<ref>Eine Charta ist eine Art Urkunde mit politischen Versprechen; Ludwig XVIII. legte den Franzosen noch vor der Restauration der Monarchie eine Charta vor.
</ref> von Ludwig XVIII. (reg. 1814-24) und Louis-Philippe (reg. 1830-48) erklärten den Katholizismus weiterhin zur Mehrheits- statt zur Staatsreligion. Wenn auch das Konkordat trotz der vielen politischen Umwälzungen beibehalten wurde, zeichnete sich auf gesellschaftlicher Ebene zunehmend eine Spaltung zwischen den ‚zwei Frankreichs‘ (frz. ''deux Frances'') ab, d.h. zwischen einem überwiegend progressiv-republikanischen und städtischen Frankreich einerseits und einem konservativ-katholischen und ländlichen Frankreich anderseits.
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</ref> von Ludwig XVIII. (reg. 1814–1824) und Louis-Philippe (reg. 1830–1848) erklärten den Katholizismus weiterhin zur Mehrheits- statt zur Staatsreligion. Wenn auch das Konkordat trotz der vielen politischen Umwälzungen beibehalten wurde, zeichnete sich auf gesellschaftlicher Ebene zunehmend eine Spaltung zwischen den »zwei Frankreichs« (frz. ''deux Frances'') ab, d.h. zwischen einem überwiegend progressiv-republikanischen und städtischen Frankreich einerseits und einem konservativ-katholischen und ländlichen Frankreich anderseits.
  
Die sakralen Verweise der restaurierten Monarchie und die Wiederherstellung kirchlichen Besitzes gingen mit einer katholischen Wiederbelebung einher, welche unter anderem eine wachsende Zahl von Klosterorden, die Entstehung einer katholischen Öffentlichkeit und den Ausbau eines kirchlichen Netzwerks von Sozialeinrichtungen zur Folge hatte. Diese ‚Verkirchlichung‘ des öffentlichen Lebens stieß unter Freidenkern, Andersgläubigen und Liberalen auf Widerstand. Immer häufiger stand die Macht der Kirche zur Debatte und griffen Intellektuelle die Lehrmeinungen Roms, die sie als vormodern und abergläubisch betrachteten, an. 1863 veröffentlichte der bretonische Schriftsteller und ehemalige Seminarist Ernest Renan (1823-1892) eine historische Biographie über Jesus, genannt ''Vie de Jésus'' '''(Quelle 2)'''. Sein Versuch das Leben Jesu gemäß den Prinzipien der modernen Wissenschaft zu rekonstruieren, traf die Römisch-Katholische Kirche wie ein Blitz aus heiterem Himmel; Renan wurde daraufhin exkommuniziert.
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Die sakralen Verweise der restaurierten Monarchie und die Wiederherstellung kirchlichen Besitzes gingen mit einer katholischen Wiederbelebung einher, welche unter anderem eine wachsende Zahl von Klosterorden, die Entstehung einer katholischen Öffentlichkeit und den Ausbau eines kirchlichen Netzwerks von Sozialeinrichtungen zur Folge hatte. Diese »Verkirchlichung« des öffentlichen Lebens stieß unter Freidenkern, Andersgläubigen und Liberalen auf Widerstand. Immer häufiger stand die Macht der Kirche zur Debatte und griffen Intellektuelle die Lehrmeinungen Roms, die sie als vormodern und abergläubisch betrachteten, an. 1863 veröffentlichte der bretonische Schriftsteller und ehemalige Seminarist Ernest Renan (1823–1892) eine historische Biographie über Jesus, genannt ''Vie de Jésus'' ({{Source|Ernest Renan, Das Leben Jesu (1863)|Quelle 2}}). Sein Versuch das Leben Jesu gemäß den Prinzipien der modernen Wissenschaft zu rekonstruieren, traf die Römisch-Katholische Kirche wie ein Blitz aus heiterem Himmel; Renan wurde daraufhin exkommuniziert.
  
Nach 1848 manifestierte sich in weiten Teilen Europas eine Spaltung zwischen ‚Liberalen‘, welche den Einfluss der Kirche im politischen Raum verringern wollten, und Ultramontanen, die eine Stärkung des Papsttums und der Bischöfe anstrebten. In Frankreich politisierten und polarisierten sich die weltanschaulichen und religiösen Gegensätze jedoch besonders stark. Nach der Gründung der Dritten Republik<ref>Die Dritte Republik existierte von 1870 bis 1940 als Maréchal Pétain den ‚Französischen Staat‘ gründete. Ihre Vorgänge waren die Erste (1792-1804) und die Zweite (1848-1851) Republik. Aktuell befindet Frankreich sich in der Fünften Republik.
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Nach 1848 manifestierte sich in weiten Teilen Europas eine Spaltung zwischen »Liberalen«, welche den Einfluss der Kirche im politischen Raum verringern wollten, und Ultramontanen, die eine Stärkung des Papsttums und der Bischöfe anstrebten. In Frankreich politisierten und polarisierten sich die weltanschaulichen und religiösen Gegensätze jedoch besonders stark. Nach der Gründung der Dritten Republik<ref>Die Dritte Republik existierte von 1870 bis 1940, als Maréchal Pétain den »Französischen Staat« gründete. Ihre Vorgänger waren die Erste (1792–1804) und die Zweite (1848–1851) Republik. Aktuell befindet Frankreich sich in der Fünften Republik.
 
</ref> (1870) bekannten sich die Katholiken – womit vor allem die aktiv praktizierenden Gläubigen gemeint sind – mehrheitlich zum politischen Konservatismus.<ref>Am 2. April 1871 führte die Pariser Kommune eine kurzlebige Trennung von Kirche und Staat ein.
 
</ref> (1870) bekannten sich die Katholiken – womit vor allem die aktiv praktizierenden Gläubigen gemeint sind – mehrheitlich zum politischen Konservatismus.<ref>Am 2. April 1871 führte die Pariser Kommune eine kurzlebige Trennung von Kirche und Staat ein.
 
</ref> Während die republikanische Macht sich festigte, führte die katholische Unterstützung für nicht-demokratische Herrschaftsformen (egal ob Royalismus oder Imperialismus) zu ihrer politischen Isolierung. Außerdem bestärkte sie den Antiklerikalismus der Republikaner, der zunehmend eine laizistische Orientierung bekam.
 
</ref> Während die republikanische Macht sich festigte, führte die katholische Unterstützung für nicht-demokratische Herrschaftsformen (egal ob Royalismus oder Imperialismus) zu ihrer politischen Isolierung. Außerdem bestärkte sie den Antiklerikalismus der Republikaner, der zunehmend eine laizistische Orientierung bekam.
  
Papst Leo XIII. (reg. 1878-1903), der als moderat und sozial galt, beobachtete die politische Marginalisierung der Katholiken mit Sorge. Nach dem Scheitern des konservativ-nationalistischen Blocks um General Boulanger in den Parlamentswahlen von 1889 rief er schließlich 1892 in der Enzyklika ''Au Milieu des Sollicitudes'' (‚Inmitten der Besorgnisse‘) zur Akzeptanz der Republik auf '''(Quelle 3)'''. Dieser ‚Anschluss‘ (frz. ''ralliement'') an die Republik wurde jedoch keineswegs von allen Mitgliedern des Klerus mitgetragen, wie die antirepublikanische Haltung vieler Ordensgemeinschaften und Katholiken zur Zeit der Dreyfus-Affäre zeigt. Diese Bestrebungen veranlassten die Regierung zu einer strengeren Überwachung und partiellen Aufhebung der Klosterorden, was mit dem Vereinsgesetz von 1901 umgesetzt wurde.
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Papst Leo XIII. (reg. 1878–1903), der als moderat und sozial galt, beobachtete die politische Marginalisierung der Katholiken mit Sorge. Nach dem Scheitern des konservativ-nationalistischen Blocks um General Boulanger in den Parlamentswahlen von 1889 rief er schließlich 1892 in der Enzyklika ''Au Milieu des Sollicitudes'' (»Inmitten der Besorgnisse«) zur Akzeptanz der Republik auf ({{Source|Papst Leo XIII., Inmitten der Besorgnisse (datiert Rom, den 16. Februar 1892)|Quelle 3}}). Dieser »Anschluss« (frz. ''ralliement'') an die Republik wurde jedoch keineswegs von allen Mitgliedern des Klerus mitgetragen, wie die antirepublikanische Haltung vieler Ordensgemeinschaften und Katholiken zur Zeit der Dreyfus-Affäre<ref> Alfred Dreyfus (1859–1905) war ein französischer Offizier jüdischer Herkunft, der 1894 ungerecht von einem Kriegsgericht wegen Landverrat verurteilt wurde. Der Prozess dauerte Jahre und wurde zum größten politischen Skandal Frankreichs dieser Zeit. Dreyfus wurde erst 1906 rehabilitiert.
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</ref> zeigt. Diese Bestrebungen veranlassten die Regierung zu einer strengeren Überwachung und partiellen Aufhebung der Klosterorden, was mit dem Vereinsgesetz von 1901 umgesetzt wurde.
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In einem Konflikt mit einem derartigen Emotionalisierungspotenzial wie jener um die politische und gesellschaftliche Rolle der Kirche, kam es nun gelegentlich sogar zu physischen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Republikanern. Vor dem Hintergrund des Verbots der Anwendung regionaler Sprachen für den Religionsunterricht griffen einzelne Katholiken im September 1903 die für die Enthüllung eines Denkmals für Ernest Renan auf dem Domplatz von Tréguier (im Norden der Bretagne) versammelten Republikaner an. Der Vorfall erregte großes Aufsehen in den Medien, wie das Bild aus ''Le Petit Journal'' zeigt ({{Source|Illustrierter Bericht über die Enthüllung des Renan-Denkmals in Tréguier am 17. September 1903|Quelle 4}}). In Reaktion auf das Renan-Denkmal beschlossen Katholiken die Errichtung eines Gegendenkmals in Form eines Kalvarienbergs (frz. ''calvaire''), das am 19. Mai 1904 eingeweiht wurde und neben einer Kreuzigungsgruppe mehrere Statuen französischer und bretonischer Heiliger enthält. Zur Erinnerung wurden mehrere Ansichtskarten gedruckt ({{Source|Ansichtskarte des Kalvarienbergs in Tréguier am Vorabend der Einweihung am 19. Mai 1904|Quelle 5}}).
  
In einem Konflikt mit einem derartigen Emotionalisierungspotenzial wie jener um die politische und gesellschaftliche Rolle der Kirche, kam es nun gelegentlich sogar zu physischen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Republikanern. Vor dem Hintergrund des Verbots der Anwendung regionaler Sprachen für den Religionsunterricht griffen einzelne Katholiken im September 1903 die für die Enthüllung eines Denkmals für Ernest Renan auf dem Domplatz von Tréguier (im Norden der Bretagne) versammelten Republikaner an. Der Vorfall erregte großes Aufsehen in den Medien, wie das Bild aus ''Le Petit Journal'' zeigt '''(Quelle 4)'''. In Reaktion auf das Renan-Denkmal beschlossen Katholiken die Errichtung eines Gegendenkmals in Form eines Kalvarienbergs (frz. ''calvaire''), das am 19. Mai 1904 eingeweiht wurde und neben einer Kreuzigungsgruppe mehrere Statuen französischer und bretonischer Heiliger enthält. Zur Erinnerung wurden mehrere Ansichtskarten gedruckt '''(Quelle 5)'''.
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Hatten die Enthüllung des Renan-Denkmals und die Einweihung des Kalvarienbergs die innere Spaltung Frankreichs bereits offenbart, kam es im Sommer 1904 zu einem Eklat, als Papst Pius X. (reg. 1903–1913) zwei pro-republikanische Bischöfe ohne Absprache mit dem französischen Kultusminister nach Rom einberief. Daraufhin brach die Abgeordnetenkammer die diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl ab. Stimmen für die Trennung von Kirche und Staat wurden immer lauter, bis am 9. Dezember 1905 die ''séparation'' gesetzlich durchgeführt wurde ({{Source|Gesetz vom 9. Dezember 1905 zur Trennung der Kirchen und des Staates|Quelle 6}}). Damit ging das Prinzip einer staatlich geförderten Kirche<ref>Das Konzept der Staatskirche wurde bereits während der Revolution abgeschafft.</ref>, das seine Wurzeln im Gallikanismus des ''Ancien Régime'' hatte und durch das Konkordat Napoleons in geänderter Form fortgeführt worden war, zu Ende.
  
Hatten die Enthüllung des Renan-Denkmals und die Einweihung des Kalvarienbergs die innere Spaltung Frankreichs bereits offenbart, kam es im Sommer 1904 zu einem Eklat, als Papst Pius X. (reg. 1903-13) zwei pro-republikanische Bischöfe ohne Absprache mit dem französischen Kultusminister nach Rom einberief. Daraufhin brach die Abgeordnetenkammer die diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl ab. Stimmen für die Trennung von Kirche und Staat wurde immer lauter, bis am 9. Dezember 1905 die ''séparation'' gesetzlich durchgeführt wurde '''(Quelle 6)'''. Damit ging das Prinzip einer staatlich geförderten Kirche<ref>Das Konzept der Staatskirche wurde bereits während der Revolution abgeschafft.
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== Weiterführende Literatur ==
</ref>, das seine Wurzeln im Gallikanismus des Ancien Régime hatte und durch das Konkordat Napoleons in geänderter Form fortgeführt worden war, zu Ende.
 
  
''Weiterführende Literatur ''
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* Nigel ASTON, Nigel Religion and Revolution in France, 1780–1804, Washington D.C. 2000.
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* Axel Freiherr von CAMPENHAUSEN, Die Entstehung des französischen Modells der Laïcité und seine Modifikationen, in: Irene DINGEL / Christiane TIETZ (Hg.), Kirche und Staat in Deutschland, Frankreich und den USA. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Beziehung, Göttingen 2012, S. 65–87.
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* Lisa DITTRICH, Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914), Göttingen 2014.
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* Jacqueline LALOUETTE, La Séparation des Églises et de l’État, Paris 2005.
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* Maurice LARKIN, Church and State after the Dreyfus Affair: The Separation Issue in France, London 1974.
  
* Nigel Aston, Religion and Revolution in France, 1780-1804, Washington D.C. 2000.
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== Anmerkungen ==
* Campenhausen, Axel Freiherr von, Die Entstehung des französischen Models der Laïcité und seine Modifikationen, in: Irene Dingel u. Christiane Tietz, Kirche und Staat in Deutschland, Frankreich und den USA. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Beziehung, Göttingen 2012, S. 65-87.
 
* Lisa Dittrich, Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848-1914), Göttingen 2014.
 
* Jacqueline Lalouette, La Séparation des Églises et de l’État, Paris 2005.
 
* Maurice Larkin, Church and State after the Dreyfus Affair: The Separation Issue in France, London 1974.
 
  
 
<references />
 
<references />
  
== Quelle 1 ==
 
 
'''Dekret vom 21. Februar 1795 (3. Ventôse, Jahr III) zur Freiheit der Religion und Trennung der Kirche und des Staates.'''
 
 
''Unter der von Robespierre angeführten Schreckensherrschaft (1792-94) war die Zahl und Intensität von politischen wie auch physischen Angriffen auf den Klerus und die Gläubigen rasant gestiegen. Verstärkt wurde diese antikatholische Haltung durch die Kreierung des ‚Kults des Höchsten Wesens‘. Nach dem Sturz Robespierres und der Beendung des Terrors versuchte der Nationalkonvent diesen Antiklerikalismus mittels des Dekrets vom 21. Februar 1795 (3. Ventôse, Jahr III) zu ‚entschärfen‘. Das Trennungsprinzip kehrte später in der thermidorischen Verfassung vom 22. August 1795 (5. Fructidor, Jahr III) zurück.''
 
 
Nachdem er den Bericht seiner zusammengekommenen Wohlfahrts-, Sicherheits- und Gesetzgebungsausschüsse gehört hat, verfügt der Nationalkonvent:
 
 
Erster Artikel. Gemäß Artikel 7 der ''Erklärung der Menschenrechte''<ref>Im Original ist tatsächlich nur vom ''Déclaration des Droits de l’Homme'' die Rede; der vollständigen Namen des Dokuments ist jedoch ''Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen'' (d.h. Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte).
 
</ref> und Artikel 122 der Verfassung darf die Ausübung keiner einzigen Religion gestört werden.
 
 
2. Die Republik entlohnt keine einzige davon [cf. die Religion].
 
 
3. Sie [cf. die Republik] beschafft keine einzige Räumlichkeit, weder für die Religionsausübung noch für die Unterkunft der Religionsdiener.
 
 
4. Die Zeremonien aller Religionen sind außerhalb des dafür bestimmten Bereichs verboten.
 
 
5. Das Gesetz erkennt keinen Geistlichen an: keiner darf mit den Habiten, Ornaten oder Gewändern, die für religiöse Zeremonien bestimmt sind, in der Öffentlichkeit erscheinen.
 
 
6. Jede Versammlung von Bürgern zur Ausübung irgendeiner Religion unterliegt der Überwachung der ernannten Autoritäten. Diese Überwachung ist in den Maßnahmen der Polizei und der öffentlichen Sicherheit enthalten.
 
 
7. Kein Zeichen, das einer Religion gehört, darf an einem öffentlichen Ort oder im Freien aufgestellt werden, auf welche Art und Weise auch immer. Keine Beschriftung darf den Ort, der für sie [cf. die Religion] bestimmt ist, kennzeichnen. Kein Aufruf und keine öffentliche Einberufung darf erfolgen, um die Bürger dorthin einzuladen.
 
 
8. Die Kommunen oder Bezirke dürfen im Namen der Gemeinschaft keine Räumlichkeit zur Ausübung der Religion erwerben oder anmieten.
 
 
9. Es darf weder eine immerwährende oder lebenslange Stiftung noch eine Steuer für die Deckung der Kosten eingerichtet werden.
 
 
10. Wer die Zeremonien einer Religion mit Gewalt stört oder deren Gegenstände beleidigt, wird gemäß dem Polizeigesetz vom 22. Juli 1791 bestraft.
 
 
11. Das Gesetz vom 2. der Sansculotten, Jahr II, zu den kirchlichen Pensionen, bleibt unberührt und die Bestimmungen werden nach Form und Inhalt ausgeführt.
 
 
12. Jedes Dekret, dessen Bestimmungen im Gegensatz zu diesem Gesetz stehen, wird aufgehoben; und jede Anordnung gegen dieses Gesetz, die von den Repräsentanten des Volkes in den Departements veranlasst wurde, wird aufgehoben.
 
 
Bibliographie: Jean B. Duvergier (Hrsg.), ''Collection Complète des Lois, Décrets, Ordonnances, Règlemens et Avis du Conseil d’État'', 38 Bde., Paris 1824-1938, Bd. 8, S. 32. Deutsche Übersetzung von Eveline G. Bouwers.
 
 
== Quelle 2 ==
 
 
'''Ernest Renan, ''Das Leben Jesu'' (1863).'''
 
 
''Renan schrieb ‚Vie de Jésus‘ während einer Reise durch den Libanon im Jahre 1860 geschrieben. Im Buch versucht er das Leben von Jesus wie jenes anderer historischer Persönlichkeiten zu beschreiben. Gemäß dem Positivismus unterwirft er die Evangelien einer Quellenkritik; einerseits werden die Widersprüche zwischen den Evangelien beleuchtet, anderseits werden die Berichte, die über das Leben Jesu überliefert sind, mit anderen zeitgenössischen Quellen verglichen. Schließlich hinterfragt Renan die Idee der göttlichen Intervention, indem er einige Mirakel kritisch untersucht. Renan machte also einen Unterschied zwischen dem Menschen Jesus und dem Sohn Gottes. ''
 
 
(S. 1) Das Hauptereignis der Weltgeschichte ist die Revolution, durch welche die edelsten Teile der Menschheit von den alten Religionen, die man unter dem unbestimmten Namen „Heidentum“ zusammenfaßt, zu einer Religion hinübergeführt worden sind, die auf der göttlichen Einheit, der Dreieinigkeit, der Menschwerdung des Sohnes Gottes beruht. Diese Bekehrung hat fast ein Jahrtausend gebraucht, um sich zu vollziehen. Die neue Religion selbst hatte wenigstens dreihundert Jahre bedurft, um sich auszugestalten. Aber der Anfang der Revolution, um die es sich handelt, ist ein Ereignis, das unter der Regierung des Augustus und des Tiberius stattgefunden hat. Damals hat eine ausgezeichnete Persönlichkeit gelebt, die durch ihr kühnes Vorgehen und durch die Liebe, die sie einzuflößen wußte, den Inhalt des künftigen Glaubens der Menschheit schuf und seinen Ausgangspunkt feststellte. (…)
 
 
(S. 57) In der Tat ist es das Reich Gottes, nämlich das Reich des Geistes, das Jesus gegründet hat; und wenn er, im Schoße seines Vaters sitzend, sein Werk in der Geschichte Frucht tragen sieht, so kann er mit Recht sagen: „Das ist es, was ich gewollte habe!“ Das, was Jesus gegründet hat, was von ihm ewig bleiben wird, trotz aller Unvollkommenheiten, die von dem menschlichen Ursprung eines Werkes unzertrennlich sind, das ist die Lehre von der Freiheit des Geistes. (…)
 
 
(S. 59) Die Meinungen, die Jesu Programm mit umfaßt, verstoßen gegen die Grundsätze unserer positiven Wissenschaft. Wir kennen die Geschichte der Welt; die Umwälzungen von der Art derjenigen, die Jesus erwartete, vollziehen sich nur aus geologischen oder astronomischen Gründen, bei denen man nie einen Zusammenhang mit den sittlichen Dingen nachgewiesen hat. Aber wenn man gegen die großen (p. 60) schöpferischen Geister gerecht sein will, so darf man sich nicht an den Vorurteilen stoßen, die sie geteilt haben. Kolumbus hat Amerika entdeckt, indem er von sehr falschen Voraussetzungen ausging. Newton glaubte seine törichte Erklärung der Apokalypse eben so fest wie sein Weltsystem. Wird man irgend einen mittelmäßigen Mann unserer Zeit über einen Franz von Assisi, einen heiligen Bernhard, eine Johanna d’Arc, einen Luther stellen, weil er frei von den Irrtümer [sic] ist, die diese letzteren offenkundig gehegt haben? Sollte man die Menschen nach der Richtigkeit ihrer physikalischen Anschauungen und nach der mehr oder weniger genauen Kenntnis des wahren Weltsystems beurteilen? Verstehen wir die Stellung Jesu und das, was seine Kraft ausmachte, besser! Der Deismus des achtzehnten Jahrhunderts und eine gewisse Richtung des Protestantismus haben uns daran gewöhnt, den Gründer des christlichen Glaubens nur als einen großen Sittenlehrer, als einen Wohltäter der Menschheit zu betrachten. Wir sehen im Evangelium nur die schönen Grundsätze, die es enthielt; wir werfen klug einen Schleier über den fremdartigen geistigen Zustand, aus dem es hervorgegangen ist. Es gibt ja auch Leute, die bedauern, daß die französische Revolution mehr als einmal ihren Prinzipien untreu geworden sei, und daß es nicht weise und gemäßigte Menschen gewesen seien, die sie gemacht hätten. Wir sollten doch nicht mit so spießbürgerlichen Forderungen an diese außerordentlichen, riesenhaften Ereignisse herantreten. Wir wollen lieber fortfahren, die „Moral des Evangeliums“ zu bewundern, wir wollen in unserem religiösen Unterrichte die Schimäre fortlassen, die die Seele desselben war, und wir wollen nun und nimmer glauben, daß man mit einfachen Ideen von Glück oder individueller Sittlichkeit die Welt bewege. Jesu Idee war viel tiefer: es war die revolutionärste (S. 61) Idee, die jemals aus einem menschlichen Hirn hervorgegangen ist. Sie muß in ihrer Gesamtheit aufgefaßt werden, und man darf dabei nicht dasjenige ängstlich beiseite lassen, was sie zur Wiedergeburt der Menschheit wirksam gemacht hat. (…)
 
 
(S. 61) Was Jesus von den Agitatoren seiner Zeit und von denen aller Jahrhunderte unterscheidet, ist sein vollkommener Idealismus. Jesus ist in gewissem Sinne ein Anarchist, denn er hat keine Vorstellung vom bürgerlichen Regimente. Dieses Regiment erscheint ihm schlechtweg als ein Mißbrauch. Er spricht von ihm in unbestimmten Ausdrücken, (S. 62) wie ein Mann aus dem Volke, der keine Idee von Politik hat. Jede Obrigkeit erscheint ihm als ein natürlicher Feind des „Menschen Gottes“, er verkündigt seinen Jüngern Zerwürfnisse mit der obrigkeitlichen Gewalt, ohne einen Augenblick daran zu denken, daß darin ein Grund zum erröten liegen könnte. Aber niemals zeigt sich bei ihm eine Spur des Wunsches, sich in die Stellung der Mächtigen und Reichen zu erheben. Er will den Reichtum und die Macht vernichten, nicht sich ihrer bemächtigen. Er sagt seinen Jüngern Verfolgungen und Todesstrafen vorher, aber niemals läßt er den Gedanken an einen bewaffneten Widerstand durchblicken. Der Gedanke, daß der Mensch durch Leidensfähigkeit und Entsagung allmächtig ist, daß er durch Reinheit des Herzens über die rohe Gewalt triumphiert, ist Jesus durchaus eigentümlich. Jesus ist kein Spiritualist, denn alles kommt bei ihm auf eine greifbare Verwirklichung hinaus; aber er ist ein vollkommener Idealist, indem die Materie für ihn nur das Zeichen der Idee und die Wirklichkeit nur der lebendige Ausdruck dessen ist, was selbst nicht sichtbar wird.
 
 
(S. 131) Als Jesus nach Galiläa zurückkehrte, hatte er seinen jüdischen Glauben vollständig aufgegeben und befand sich in völlig revolutionärer Stimmung. Von nun an kommen seine Gedanken mit vollkommener Klarheit zum Ausdruck. Die nicht allzu weit tragenden Aussprüche aus der ersten Zeit seines Prophetentums, die zum Teil von den früheren Rabbinern entlehnt waren, die erhabenen Predigten aus seiner zweiten Periode über sittliche Fragen weichen jetzt einem entschlossenen Vorgehen auf ganz bestimmte Ziele: Das Gesetz soll abgeschafft werden; er wird es abschaffen. Der Messias ist erschienen; er ist es. Das Reich Gottes wird bald offenbar werden; durch ihn wird das geschehen. Zwar weiß er sehr wohl, daß er seiner Kühnheit zum Opfer fallen wird, aber das Gottesreich kann nicht ohne einen Gewaltakt gewonnen werden; Wirren und Bürgerzwist müssen es vorbereiten. Der Menschensohn wird nach seinem Tode in Glorie zurückkehren, von Engellegionen begleitet, und seine Feinde werden vernichtet werden.
 
 
Die Kühnheit einer solchen Auffassung der Dinge darf uns nicht überraschen. Jesus betrachtete schon seit lange sein Verhältnis zu Gott als das eines Sohnes zu seinem Vater. Was bei anderen ein unerträglicher Hochmut wäre, das (S. 132) darf man bei ihm nicht als Frevel behandeln. Der Titel „Davidssohn“ war der erste, den er annahm, wahrscheinlich ohne sich der leichten Einstellungen der Wahrheit bewußt zu sein, durch die man ihm die Berechtigung zur Führung dieses Titels glaubhaft zu machen suchte. Die Familie Davids war, wie es scheint, seit lange ausgestorben; weder die von Priestern stammenden Asmonäer noch Herodes noch die Römer dachten einen Augenblick daran, daß in ihrer Nähe irgendein Vertreter der Rechtsansprüche des davidischen Könighauses existieren könne. Aber seit dem Ende der Asmonäerherrschaft spukte in allen Köpfen das Traumbild eines unbekannten Abkömmlings der alten Könige, der die Nation an ihren Feinden rächen werde. Man glaubte allgemein, daß der Messias ein Davidssohn sein und wie David in Bethlehem das Licht der Welt erblicken werde. Jesus war anfangs diesem Glauben nicht sehr geneigt. Die Erinnerung an David, die die Masse des jüdischen Volkes beschäftigte, hatte nichts gemein mit dem himmlischen Reiche, an das er dachte. Er hielt sich für einen Sohn Gottes, nicht für einen Sohn Davids. Sein Reich und die Erlösung, die er im Sinne hatte, gehörten einer ganz anderen Sphäre an. Aber die öffentliche Meinung tat ihm gewissermaßen Gewalt an. Die unmittelbare Folgerung aus dem Satze „Jesus ist der Messias“ war der Satz: „Jesus ist ein Davidssohn.“ Deshalb duldete Jesus, daß man ihm einen Titel beilege, ohne den er nicht auf Erfolg rechnen durfte. Schließlich scheint er daran Gefallen gefunden zu haben, denn er vollbrachte bereitwilligst die Wunder, um die man ihn unter Nennung jenes Namens bat. Hier wie in mehreren anderen Fällen erschloß Jesus sich den Ideen, die seine Zeit bewegten, obgleich die seinen nicht genau damit übereinstimmten. Er sucht mit seiner Lehre vom „Gottesreich“ alles in Verbindung (S. 133) zu bringen, was gerade die Herzen seiner Volksgenossen entflammte und ihre Phantasie erhitzte. Aus diesem Grund habe wir ihn die Johannestaufe annehmen sehen, an der ihm doch nicht viel liegen konnte.
 
 
(S. 134) Die Jesuslegende ist also die freie Schöpfung einer begeisterten Masse, und unter dem Eindruck der Persönlichkeit Jesu schon bei seinen Lebzeiten entstanden. Jedes große Ereignis der Geschichte ist bisher Mittelpunkt eines Sagenkreises geworden, und Jesus hätte, wenn er auch gewollt hätte, jene Gebilde der Volksphantasie nicht vernichten können.
 
 
(S. 208) In seinem [d.h. Jesus – E.G.B.] Namen hat man Jahrhunderte lang Denkern von ebenso edler Gesinnung, wie die seine war, Folter- und Todesqualen bereitet. Noch heute verhängt man in Ländern, die sich christlich nennen, Strafen wegen religiöser Mängel. Jesus darf für diese Verirrungen natürlich nicht verantwortlich gemacht werden. Er konnte nicht ahnen, daß die verirrte Phantasie mancher Völker ihn einmal als schrecklichen Moloch auslassen würde, der nach Brandopfern von Menschenfleisch begehrt. Das Christentum ist unduldsam gewesen; aber die Unduldsamkeit ist keine spezifisch christliche Erscheinung. Sie ist vielmehr eine jüdische Erscheinung, insofern das Judentum zum erstenmal den Anspruch erhoben hat, die absolute Religion zu sein, und den Grundsatz aufgestellt hat, jeder Neuerer, selbst wenn er seine Lehre durch Wunder beglaubige, sei mit Steinwürfen zu empfangen und (S. 209) ohne vorheriges Gericht zu töten. Allerdings hat auch die Heidenwelt ihre religiösen Gewaltsamkeiten besessen. Aber wenn sie ein derartiges Gesetz gehabt hätte, wie die Juden, wäre sie dann zum Christentum übergegangen? Der Pentateuch ist somit das erste Gesetzbuch des religiösen Terrorismus gewesen. Das Judentum hat zuerst das Beispiel eines starren Dogmas, dem das Schwert zur Seite steht, gezeigt. Wenn die Christen, anstatt die Juden mit blinden Hasse zu verfolgen, mit jener Denkweise gebrochen hätten, die ihrem Herrn den Tod gebracht hat – wieviel mehr hätten sie in seinem Sinne gehandelt, wieviel mehr hätten sie sich um die Menschheit verdient gemacht.
 
 
Bibliographie: Ernest Renan, ''Das Leben Jesu'', übersetzt von W. Kalt, Halle/Saale 1913.
 
 
Das französische Original: Ernest Renan, Vie de Jésus, Paris 1863.
 
 
URL: http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k6102463z
 
 
== Quelle 3 ==
 
 
'''Papst Leo XIII., Inmitten der Besorgnisse (datiert Rom, den 16. Februar 1892).'''
 
 
''Mit der Veröffentlichung seiner Enzyklika ‚Rerum Novarum‘ im Jahre 1891 bekam Papst Leo XIII. (reg. 1878-1903) den Spitznamen „Arbeiterpapst“. Doch der gebürtige Vincenzo Gioacchino Pecci war weit mehr als ein Kirchenvater, der die dunkele Seite des Kapitalismus verurteilte und der katholischen Soziallehre neue Impulse gab. Besonders bemüht war Leo XIII., die politische Isolierung der Kirche aufzuheben. In diesem Kontext veröffentlichte er 1892 die Enzyklika ‚Au Milieu des Sollicitudes‘, in der der Papst die Katholiken Frankreichs zur Akzeptanz der republikanischen Staatsform aufrief. ''
 
 
Inmitten der Besorgnisse
 
 
Enzyklika
 
 
Unseres Heiligen Vaters Leo XIII.
 
 
An die Erzbischöfe, Bischöfe, an den Klerus und an alle Katholiken Frankreichs
 
 
''Ehrwürdige Brüder, teuerste Söhne.''
 
 
Wie sollten Wir nicht von lebhaftem Schmerz erfüllt sein, wenn Wir in der gegenwärtigen Stunde an die Tragweite der ausgedehnten Verschwörung denken, die gewisse Leute angezettelt haben, um das Christentum in Frankreich zu vernichten, und an die Feindseligkeit, mit der sie die Verwirklichung ihrer Pläne verfolgen, wobei sie die nach dem Gefühl der Mehrheit des Volkes elementarsten Begriffe von Freiheit, Gerechtigkeit und Achtung vor den unveräußerlichen Rechten der katholischen Kirche mit Füßen treten? Und wie sollen Wir der Bitterkeit, die Uns erfüllt, und den Sorgen, die auf Uns einstürmen, Ausdruck verleihen, wenn Wir die unheilvollen Folgen dieser sträflichen Angriffe, die zum Verderben der Sitten, der Religion und selbst der rechtverstandenen politischen Interessen führen, eine nach der andern sich manifestieren sehen?
 
 
Auf der anderen Seite fühlen Wir einen nicht geringen Trost, wenn Wir sehen, wie dieses gleiche Volk Liebe und Eifer für den HI. Stuhl im gleichen Maße verdoppelt, wie es ihn immer mehr verlassen und, müssten Wir sagen, immer mehr in aller Welt angefeindet sieht. Bewegt von einem tiefen religiösen und echt patriotischen Gefühl sind die Vertreter aller sozialen Schichten Frankreichs zu verschiedenen Malen zu Uns geeilt, glücklich, der Kirche in den drängenden Nöten beizustehen, zugleich im Verlangen, Uns um Aufklärung und Rat zu bitten, um sicher zu sein, dass sie sich inmitten der gegenwärtigen Heimsuchungen nicht um einen Schritt von den Weisungen des Oberhauptes der Gläubigen entfernen.
 
 
[…]
 
 
Auch heute halten Wir es für angebracht und sogar für notwendig, erneut Unsere Stimme zu erheben und noch eindringlicher nicht nur alle Katholiken, sondern, möchten Wir sagen, alle rechtlich und vernünftig denkenden Franzosen zu ermahnen, jeden Keim politischen Haders zu ersticken, um ihre Kräfte einzig für die Befriedung ihres Vaterlandes einzusetzen. Diese Befriedung – alle kennen ihren Preis, alle wünschen sie immer sehnlicher herbei. Und Wir ersehnen sie mehr als irgendjemand sonst, denn Wir vertreten auf Erden den &quot;Gott des Friedens&quot;; daher laden Wir mit diesem Schreiben alle redlichen Seelen, alle großmütigen Herzen ein, Uns zu helfen, sie dauerhaft und wirksam zu machen.
 
 
[…]
 
 
Verschiedene politische Regierungen haben im Verlauf dieses Jahrhunderts in Frankreich einander abgelöst, und jede hatte ihre bestimmte Form: Kaiserreiche, Monarchien, Republiken. Wenn man im Abstrakten verbleibt, könnte man leicht definieren, welche, in sich betrachtet, die beste Form ist ; man kann auch mit vollem Recht sagen, daß jede von ihnen gut sei, sofern sie nur fähig ist, geradlinig auf ihr Ziel zuzugehen, auf das Gemeinwohl nämlich, für das die gesellschaftliche Autorität eingesetzt worden ist ; schließlich muß noch hinzugefügt werden, daß unter einem bestimmten Gesichtspunkt diese oder jene Regierungsform vorzuziehen sei, weil sie dem Charakter und den Sitten dieser oder jener bestimmten Nation besser angepaßt ist. In der Ordnung des theoretischen Denkens haben die Katholiken wie jeder andere Staatsbürger die volle Freiheit, die eine Regierungsform der andern vorzuziehen, ebendeshalb, weil keine der gesellschaftlichen Formen von sich aus den Regeln der gesunden Vernunft und den Maximen der christlichen Doktrin widerspricht. All dies genügt auch, um vollauf die Weisheit der Kirche zu rechtfertigen, wenn sie in ihren Beziehungen zu den politischen Gewalten von den sich unterscheidenden Formen absieht, um mit ihnen die großen religiösen Anliegen der Völker zu behandeln, aus dem Bewußtsein heraus, daß es ihre Pflicht ist, diese über alle anderen Interessen hinweg unter ihren Schutz zu nehmen.
 
 
[…]
 
 
Wenn folglich neue Regierungen, die diese unveränderliche Gewalt repräsentieren, sich gebildet haben, so ist ihre Annahme nicht nur erlaubt, sondern erfordert, nämlich geboten im Interesse des allgemeinen Wohls, das sie hervorgebracht hat und aufrecht erhält. Umso mehr, als die Rebellion den Haß unter den Bürgern schürt, Bürgerkriege provoziert und die ganze Nation in das Chaos der Anarchie stürzen kann. Und diese schwere Pflicht der Achtung und Unterwerfung bleibt bestehen, solange die Erfordernisse des Gemeinwohls es verlangen, denn dieses Gut ist in der Gesellschaft nach Gott das erste und letzte Gebot.
 
 
Das erklärt auch das kluge Vorgehen der Kirche, die die Beziehungen zu den zahlreichen Regierungen aufrecht erhalten hat, die in Frankreich in weniger als einem Jahrhundert einander abgelöst haben, und zwar in keinem Fall ohne heftige und tiefergreifende Erschütterungen hervorzurufen. Eine solche Haltung ist für alle Franzosen die sicherste und heilsamste Verhaltensweise in ihren staatsbürgerlichen Beziehungen zur Republik, die die gegenwärtige Staatsform der Nation ist. Fern seien von ihnen die politischen Zwistigkeiten, die sie trennen; alle ihre Anstrengungen müssen sich vereinigen, um die sittliche Größe ihres Vaterlandes zu bewahren oder zu erneuern.
 
 
Aber da erhebt sich ein Einwand: „Diese Republik, bemerkt man, ist von derartig antichristlichen Gefühlen beseelt, daß alle rechtlich denkenden Menschen, und mehr noch die Katholiken, sie aus Gewissensgründen nicht annehmen können.“ Das ist es vor allem, was zu den Meinungsverschiedenheiten Anlaß gegeben und sie noch vertieft hat. – Man hätte diese bedauerlichen Auseinandersetzungen vermeiden können, wenn man die wichtige Unterscheidung zwischen etablierter Gewalt und Gesetzgebung sorgfältig beachtet hätte. Die Gesetzgebung unterscheidet sich so weitgehend von den politischen Gewalten und ihrer Form, daß unter einer Regierung mit der besten Regierungsform die Gesetzgebung verwerflich sein kann, während andererseits unter einer Regierung mit der unvollkommensten Regierungsform eine ausgezeichnete Gesetzgebung bestehen kann. Es wäre ein leichtes, diese Wahrheit anhand der Geschichte zu beweisen; doch wozu? Alle sind davon überzeugt. Wer wüßte es besser als die Kirche, die sich immer bemüht hat, mit allen politischen Regimen normale Beziehungen zu unterhalten? Gewiß kann sie mehr als jede andere Macht sagen, wieviel Erleichterung und wieviel Leid ihr die Gesetze der verschiedenen Regierungen gebracht haben, die nacheinander vom Römischen Reich an bis in unsere Tage die Völker gelenkt haben.
 
 
Die von uns gemachte Unterscheidung ist nicht nur von höchster praktischer Bedeutung, sie ist auch innerlich und sachlich begründet: Die Gesetzgebung ist das Werk der Menschen, die die Gewalt besitzen und tatsächlich die Nation regieren. Darauf folgt, daß die Qualität der Gesetze praktisch mehr von der Qualität dieser Menschen abhängt als von der Regierungsform. Diese Gesetze werden gut oder schlecht sein, je nachdem, ob die Gesetzgeber von guten oder schlechten Prinzipien durchdrungen sind und je nachdem sie sich von politischer Klugheit oder von der Leidenschaft leiten lassen.
 
 
Daß in Frankreich seit mehreren Jahren die Gesetzgebung verschiedene wichtige Maßnahmen verfügt hat, die eingegeben sind von feindseligen Absichten gegen die Religion und folglich auch gegen die Interesse der Nation, ist allgemeine Überzeugung und wird leider durch die Evidenz der Tatsachen bestätigt. Wir selbst haben Uns, getreu Unserer heiligen Pflicht, mit lebhaften Klagen an das damalige Oberhaupt der Republik gewandt. Diese Bestrebungen blieben jedoch bestehen, das Übel verschlimmerte sich noch, und niemand kann sich wundern, daß die Glieder des französischen Episkopats, vom Heiligen Geist eingesetzt, ihre verschiedenen ehrwürdigen Kirchen zu leiten, es, wie noch vor kurzem, als ihre Pflicht erachtet haben, öffentlich ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen angesichts der Lage der katholischen Religion in Frankreich. Armes Frankreich! Gott allein kann den Abgrund des Unheils ermessen, in das es stürzen wird, wenn diese Gesetzgebung sich nicht bessert, sondern weiter auf fiesen Abwegen verharrt, die dahin führen werden, aus Geist und Herz der Franzosen die Religion auszurotten, die sie groß gemacht hat.
 
 
[…]
 
 
Bevor Wir unser Schreiben beschließen, wollen Wir noch zwei Punkte kurz berühren, die untereinander eng verbunden sind und, da sie eng mit den religiösen Interessen verknüpft sind, unter den Katholiken gewisse Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen haben. – Der eine betrifft das Konkordat. […] Der zweite Punkt [ist] das Prinzip der Trennung von Staat und Kirche, die einer Trennung der menschlichen von der christlichen und göttlichen Gesetzgebung gleichkommt. Wir wollen Uns hier nicht dabei aufhalten, die ganze Absurdität der These dieser Trennung zu beweisen; jeder wird sie von selbst erkennen. Sobald der Staat sich weigert, Gott zu geben, was Gottes ist, verweigert er mit folgerichtiger Notwendigkeit auch den Bürgern, worauf sie als Menschen ein Anrecht haben; denn, ob man will oder nicht, die wahren Menschenrechte entspringen gerade aus den Pflichten gegenüber Gott. Daraus folgt, daß der Staat, der in dieser Beziehung den wichtigsten Zweck seines Daseins verfehlt, in Wahrheit dahin gelangt, sich selbst aufzugeben und den Grund für seine eigene Existenz in Abrede zu stellen. Diese erstrangigen Wahrheiten sich durch die Stimme der natürlichen Vernunft selbst so klar ausgesprochen, daß sie sich jedem Menschen aufdrängen, der nicht durch stürmische Leidenschaften verblendet ist. Deshalb sollten die Katholiken sich hüten, diese Trennung zu unterstützen.
 
 
Bibliographie: Leo XIII. Inmitten der Besorgnisse, in: Arthur Utz &amp; Brigitta Gräfin von Galen (Hrsg.), ''Die katholische Sozialdoktrin in ihrer geschichtlichen Entfaltung. Ein Sammlung päpstlicher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart'', 4 Bde., Aachen 1976, Bd. 3, S. 2356-2379.
 
 
Für das französische Original: http://w2.vatican.va/content/leo-xiii/fr/encyclicals/documents/hf_l-xiii_enc_16021892_au-milieu-des-sollicitudes.html
 
 
== Quelle 4 ==
 
 
'''Illustrierter Bericht über die Enthüllung des Renan-Denkmals in Tréguier am 17. September 1903. '''
 
 
''Seine Heimatstadt Tréguier, bis zur Revolution Bistumssitz, hatte Ernest Renan einst als ‚ein großes Kloster’ beschrieben. Entsprechend konfliktgeladen war die Errichtung eines Denkmals für den Autor von ‚Das Leben Jesu‘ auf dem Platz vor dem Dom; während der Feierlichkeiten am 17. September 1903 kam es sogar zu physischen Auseinandersetzungen. Das hier gezeigte Bild wurde veröffentlicht in der illustrierten Sonntagsausgabe der Pariser Tageszeitung ‚Le Petit Journal‘ (1863-1944), die während der Dritten Republik zu den größten Zeitungen Frankreichs gehörte. Die Zeitung hatte den Charakter eines Feuilletons; tagesaktuelle politische Nachrichten wurden eher selten aufgenommen.''
 
 
[[File:media/image1.jpeg]]
 
 
Bibliographie: Inauguration de la Statue de Renan. Les Incidents de Trèguier, in: ''Le Petit Journal Illustré'' (27. September 1903) © Privatsammlung Eveline G. Bouwers.
 
 
Die Französische Nationalbibliothek hat sowohl ''Le Petit Journal'' wie auch ihre Sonntagsausgabe digitalisiert:
 
  
URL (Le Petit Journal): http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb32895690j/date
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<code>'''Zitationsempfehlung des Beitrags'''
  
URL (Le Petit Journal Illustré): http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/cb32836564q/date
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Eveline G. BOUWERS, Religion und Politik in Frankreich: Von der Französischen Revolution bis zur Dritten Republik, in: »Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit«. Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), URL: http://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen/index.php?title=Religion_und_Politik_in_Frankreich:_Von_der_Französischen_Revolution_bis_zur_Dritten_Republik</code>

Aktuelle Version vom 1. Februar 2017, 13:48 Uhr

Eveline G. Bouwers

Religion und Politik in Frankreich: Von der Französischen Revolution bis zur Dritten Republik

Einleitung

In Frankreich sind politische und religiöse Streitigkeiten seit Jahrhunderten eng miteinander verflochten. Bereits in der Frühen Neuzeit kam es aufgrund dessen im Land des »allerchristlichsten Königs« vielfach zu Konflikten, Gewalt und Krieg. Während der Hugenottenkriege (1562–1598) kämpften die katholischen Adligen gegen die Zentralisierungsbestrebungen der Könige, die von den etwa 10 Prozent französischen Protestanten unterstützt wurden. Beendet wurde dieser Streit durch das Edikt von Nantes (1598), das den Hugenotten zwar Gewissensfreiheit, freie Religionsausübung und Bürgerrechte zusicherte, doch durch die Erhebung des Katholizismus zur Staatsreligion die Position religiöser Minderheiten langfristig schwächte. Tatsächlich wurde die Sonderstellung der Hugenotten zunehmend als Widerspruch zum absolutistischen Staatsideal empfunden. 1685 wiederrief Ludwig XIV. (reg. 1643–1715) dann das Nanter Edikt.

Seit dem 14. Jahrhundert hatten die Könige eine gewisse Autonomie der französischen Kirche vom Heiligen Stuhl angestrebt. Der Versuch, die weltliche Macht der nationalen Bischöfe gegenüber jener des Papstes zu stärken, wurde später als Gallikanismus (von Gallia, d.h. Frankreich) bezeichnet und von Ludwig XIV. zur Staatsraison erhoben. Wie auch der Absolutismus, geriet der Gallikanismus während der Aufklärung in die Kritik. Statt nach Tradition strebten die philosophes[1] nach Fortschritt und nach einer an der Vernunft orientierten Gesellschaftsgestaltung; die Hegemonie des Souveräns und der herrschenden Stände sollte durch das Gemeinwohl und die Einführung von Bürgerrechten ersetzt werden. An die Stelle des Aberglaubens traten Vernunft, Wissenschaft und Toleranz. Leitspruch der kirchenkritischen Ansichten der Philosophen wurde das Diktum Voltaires: »Rottet den niederträchtigen [Aberglauben] aus!« (Écrasez l’infâme!).

Das frühneuzeitliche Bündnis von Thron und Altar gab der Kirche zwar Macht, doch gefährdete es zugleich ihre Position. Als Teil des monarchischen Machtgefüges strahlten die verlorenen Kriege, der drohende Staatsbankrott und der soziale Unmut des 18. Jahrhunderts auf sie aus. Dass neben dem Adel auch der höhere Klerus den Verzicht auf Privilegien verweigerte, sorgte für Unzufriedenheit. Dennoch richteten sich die Proteste vom Sommer 1789 keineswegs gegen all das, was kirchlich und religiös war; vielmehr schloss der niedrige Klerus sich teilweise dem Dritten Stand (d.h. allen, die weder zum Adel noch zum Klerus gehörten) an. Trotzdem geriet die andauernde kirchliche Unterstützung für die Monarchie ins Visier der Revolutionäre. Nachdem der Besitz der Kirche im November konfisziert und die Klosterorden im Februar 1790 aufgehoben worden waren, verabschiedete die Verfassungsgebende Nationalversammlung im Juli des gleichen Jahres die Zivilkonstitution des Klerus, welche die Kirche unter staatliche Aufsicht stellte. Von den Priestern, nun Beamten, wurde ein Eidesschwur auf die Verfassung verlangt, den ihnen Papst Pius VI. (reg. 1775–1799) aber untersagte. So entstanden ein verfassungstreuer und ein romtreuer Klerus, der gefangengenommen wurde oder emigrierte.

Je antiklerikaler sich die am 21. September 1792 gegründete Republik[2] entwickelte, desto größer wurde der Widerstand unter den Gläubigen. Nach der Ankündigung einer militärischen levée en masse[3] kam es im Westen Frankreichs zu einem blutigen Bürgerkrieg zwischen der Republik einerseits – die zwar einen Bedarf an Religiosität erkannte, doch diesen u.a. durch den von Robespierre geförderten Kult des Höchsten Wesens zu befriedigen versuchte – und den Royalisten sowie praktizierenden Katholiken anderseits. Nach dem Fall Robespierres versuchte das politisch deutlich gemäßigtere Direktorium die antirepublikanische Gesinnung der Gläubigen zu überwinden, indem es am 21. Februar 1795 (3. Ventôse, Jahr III) das Dekret zur »Freiheit der Religion und Trennung der Kirchen und des Staates« verabschiedete (⌘ Quelle 1). Das Dekret regelte neben der religiösen Toleranz vor allem die staatliche Überwachung kirchlicher Organisationen und Akteure. Ihm war jedoch kein langes Leben beschert; bereits am 16. Juli 1801 (26. Messidor, Jahr IX) wurde es von einem Konkordat ersetzt, das den Katholizismus zur »Religion der großen Mehrheit der französischen Bürger« machte und die staatliche Benennung und Besoldung des Klerus festsetzte.

Nach dem Fall Napoleons wurde beim Wiener Kongress (1815) zwar die Restauration der Bourbonenmonarchie in Frankreich beschlossen, doch am Verhältnis von Kirche und Staat änderte sich zunächst wenig. Die Chartas[4] von Ludwig XVIII. (reg. 1814–1824) und Louis-Philippe (reg. 1830–1848) erklärten den Katholizismus weiterhin zur Mehrheits- statt zur Staatsreligion. Wenn auch das Konkordat trotz der vielen politischen Umwälzungen beibehalten wurde, zeichnete sich auf gesellschaftlicher Ebene zunehmend eine Spaltung zwischen den »zwei Frankreichs« (frz. deux Frances) ab, d.h. zwischen einem überwiegend progressiv-republikanischen und städtischen Frankreich einerseits und einem konservativ-katholischen und ländlichen Frankreich anderseits.

Die sakralen Verweise der restaurierten Monarchie und die Wiederherstellung kirchlichen Besitzes gingen mit einer katholischen Wiederbelebung einher, welche unter anderem eine wachsende Zahl von Klosterorden, die Entstehung einer katholischen Öffentlichkeit und den Ausbau eines kirchlichen Netzwerks von Sozialeinrichtungen zur Folge hatte. Diese »Verkirchlichung« des öffentlichen Lebens stieß unter Freidenkern, Andersgläubigen und Liberalen auf Widerstand. Immer häufiger stand die Macht der Kirche zur Debatte und griffen Intellektuelle die Lehrmeinungen Roms, die sie als vormodern und abergläubisch betrachteten, an. 1863 veröffentlichte der bretonische Schriftsteller und ehemalige Seminarist Ernest Renan (1823–1892) eine historische Biographie über Jesus, genannt Vie de Jésus (⌘ Quelle 2). Sein Versuch das Leben Jesu gemäß den Prinzipien der modernen Wissenschaft zu rekonstruieren, traf die Römisch-Katholische Kirche wie ein Blitz aus heiterem Himmel; Renan wurde daraufhin exkommuniziert.

Nach 1848 manifestierte sich in weiten Teilen Europas eine Spaltung zwischen »Liberalen«, welche den Einfluss der Kirche im politischen Raum verringern wollten, und Ultramontanen, die eine Stärkung des Papsttums und der Bischöfe anstrebten. In Frankreich politisierten und polarisierten sich die weltanschaulichen und religiösen Gegensätze jedoch besonders stark. Nach der Gründung der Dritten Republik[5] (1870) bekannten sich die Katholiken – womit vor allem die aktiv praktizierenden Gläubigen gemeint sind – mehrheitlich zum politischen Konservatismus.[6] Während die republikanische Macht sich festigte, führte die katholische Unterstützung für nicht-demokratische Herrschaftsformen (egal ob Royalismus oder Imperialismus) zu ihrer politischen Isolierung. Außerdem bestärkte sie den Antiklerikalismus der Republikaner, der zunehmend eine laizistische Orientierung bekam.

Papst Leo XIII. (reg. 1878–1903), der als moderat und sozial galt, beobachtete die politische Marginalisierung der Katholiken mit Sorge. Nach dem Scheitern des konservativ-nationalistischen Blocks um General Boulanger in den Parlamentswahlen von 1889 rief er schließlich 1892 in der Enzyklika Au Milieu des Sollicitudes (»Inmitten der Besorgnisse«) zur Akzeptanz der Republik auf (⌘ Quelle 3). Dieser »Anschluss« (frz. ralliement) an die Republik wurde jedoch keineswegs von allen Mitgliedern des Klerus mitgetragen, wie die antirepublikanische Haltung vieler Ordensgemeinschaften und Katholiken zur Zeit der Dreyfus-Affäre[7] zeigt. Diese Bestrebungen veranlassten die Regierung zu einer strengeren Überwachung und partiellen Aufhebung der Klosterorden, was mit dem Vereinsgesetz von 1901 umgesetzt wurde.

In einem Konflikt mit einem derartigen Emotionalisierungspotenzial wie jener um die politische und gesellschaftliche Rolle der Kirche, kam es nun gelegentlich sogar zu physischen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Republikanern. Vor dem Hintergrund des Verbots der Anwendung regionaler Sprachen für den Religionsunterricht griffen einzelne Katholiken im September 1903 die für die Enthüllung eines Denkmals für Ernest Renan auf dem Domplatz von Tréguier (im Norden der Bretagne) versammelten Republikaner an. Der Vorfall erregte großes Aufsehen in den Medien, wie das Bild aus Le Petit Journal zeigt (⌘ Quelle 4). In Reaktion auf das Renan-Denkmal beschlossen Katholiken die Errichtung eines Gegendenkmals in Form eines Kalvarienbergs (frz. calvaire), das am 19. Mai 1904 eingeweiht wurde und neben einer Kreuzigungsgruppe mehrere Statuen französischer und bretonischer Heiliger enthält. Zur Erinnerung wurden mehrere Ansichtskarten gedruckt (⌘ Quelle 5).

Hatten die Enthüllung des Renan-Denkmals und die Einweihung des Kalvarienbergs die innere Spaltung Frankreichs bereits offenbart, kam es im Sommer 1904 zu einem Eklat, als Papst Pius X. (reg. 1903–1913) zwei pro-republikanische Bischöfe ohne Absprache mit dem französischen Kultusminister nach Rom einberief. Daraufhin brach die Abgeordnetenkammer die diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl ab. Stimmen für die Trennung von Kirche und Staat wurden immer lauter, bis am 9. Dezember 1905 die séparation gesetzlich durchgeführt wurde (⌘ Quelle 6). Damit ging das Prinzip einer staatlich geförderten Kirche[8], das seine Wurzeln im Gallikanismus des Ancien Régime hatte und durch das Konkordat Napoleons in geänderter Form fortgeführt worden war, zu Ende.

Weiterführende Literatur

  • Nigel ASTON, Nigel Religion and Revolution in France, 1780–1804, Washington D.C. 2000.
  • Axel Freiherr von CAMPENHAUSEN, Die Entstehung des französischen Modells der Laïcité und seine Modifikationen, in: Irene DINGEL / Christiane TIETZ (Hg.), Kirche und Staat in Deutschland, Frankreich und den USA. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Beziehung, Göttingen 2012, S. 65–87.
  • Lisa DITTRICH, Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848–1914), Göttingen 2014.
  • Jacqueline LALOUETTE, La Séparation des Églises et de l’État, Paris 2005.
  • Maurice LARKIN, Church and State after the Dreyfus Affair: The Separation Issue in France, London 1974.

Anmerkungen

  1. Französische Denker der Aufklärung werden auch als philosophes bezeichnet.
  2. Die Republik wurde nie offiziell ausgerufen, doch gilt die Abschaffung der Monarchie am 22. September 1792 als »Stunde Null«. An dem Tag begann auch der erste Tag des revolutionären Kalenders (1. Vendémiaire, Jahr I.).
  3. Die »levée en masse« wurde in Frankreich im August 1793 eingeführt. Sie legte eine Wehrpflicht für alle unverheirateten Männer im Alter von 18 bis 25 Jahren fest.
  4. Eine Charta ist eine Art Urkunde mit politischen Versprechen; Ludwig XVIII. legte den Franzosen noch vor der Restauration der Monarchie eine Charta vor.
  5. Die Dritte Republik existierte von 1870 bis 1940, als Maréchal Pétain den »Französischen Staat« gründete. Ihre Vorgänger waren die Erste (1792–1804) und die Zweite (1848–1851) Republik. Aktuell befindet Frankreich sich in der Fünften Republik.
  6. Am 2. April 1871 führte die Pariser Kommune eine kurzlebige Trennung von Kirche und Staat ein.
  7. Alfred Dreyfus (1859–1905) war ein französischer Offizier jüdischer Herkunft, der 1894 ungerecht von einem Kriegsgericht wegen Landverrat verurteilt wurde. Der Prozess dauerte Jahre und wurde zum größten politischen Skandal Frankreichs dieser Zeit. Dreyfus wurde erst 1906 rehabilitiert.
  8. Das Konzept der Staatskirche wurde bereits während der Revolution abgeschafft.


Zitationsempfehlung des Beitrags

Eveline G. BOUWERS, Religion und Politik in Frankreich: Von der Französischen Revolution bis zur Dritten Republik, in: »Religion und Politik. Eine Quellenanthologie zu gesellschaftlichen Konjunkturen in der Neuzeit«. Hg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), URL: http://wiki.ieg-mainz.de/konjunkturen/index.php?title=Religion_und_Politik_in_Frankreich:_Von_der_Französischen_Revolution_bis_zur_Dritten_Republik